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Volkskultur
Volkskultur,
 
Begriff der historischen und kultursoziologischen Forschung, der die kulturellen Muster im alltäglichen Zusammenleben der Menschen in ihren historischen, regionalen und sozialen Bezügen in den Mittelpunkt stellt. Dabei richtet sich der Blick - zum Teil in Absetzung zu Hoch-, National- oder Elitenkultur - besonders auf kulturelle Erscheinungsformen, Ordnungs- und Verhaltensmuster von Gruppen, die (wie z. B. ländliche oder städtische Unterschichten, Dorfbevölkerungen, Arbeiter, sozial Benachteiligte oder verschiedene Minderheiten ) bis dahin nicht im Zentrum einer kulturwissenschaftlichen und -historischen Forschung standen, die v. a. am gesellschaftlichen Fortschritt und seinen Träger-Gruppen ausgerichtet war.
 
Der Begriff wurde zu Beginn der 1960er-Jahre von H. Bausinger eingeführt und diente zunächst der soziologisch fundierten Neubegründung der Volkskunde. Die heutige Verbreitung des Begriffs reflektiert neben dem Anschluss, den die Volkskunde damit an eine sozialwissenschaftliche ausgerichtete Geschichtswissenschaft (»Sozialgeschichte«) und Kultursoziologie gefunden hat, auch den interdisziplinär ausgerichteten Zugang zu den vormals vernachlässigten kulturellen Lebenspraktiken und -mustern der »kleinen Leute«, an deren Erforschung sich heute neben der historischen Anthropologie (»Mentalitätsgeschichte«) v. a. Ethnologie und Kultursoziologie sowie eine an Medien- und Sozialgeschichte interessierte Literatur- und Kulturwissenschaft beteiligen.
 
In dem Maße, in dem sich im Fortschritt der industriegesellschaftlichen Entwicklung neue kulturelle Muster in der Alltags- und Konsumkultur entwickelt haben und traditionell vorhandene Muster in neuen Zusammenhängen und Mischungen auftreten, geraten auch die kulturellen Erscheinungen im Alltag der Moderne in den Blick; so ergeben sich Überschneidungen des Begriffs zu Alltagskultur und populärer Kultur. - Neben der historischen Darstellung der Entwicklungen und zum Teil auch der Transformationen und des Untergangs bestimmter alltagskultureller Verhaltensmuster und entsprechender Objektbereiche (Lieder, Literaturformen, ländliche Riten, Geschlechterordnung) stehen in der heutigen V.-Forschung v. a. Fragen der Rückerfindung von Traditionen, die Wechselbeziehung von traditionellen Formen zu modernen und postmodernen Entwicklungen u. Ä. im Zentrum der Forschung.
 
Literatur:
 
E. P. Thompson: Plebej. Kultur u. moral. Ökonomie (1980);
 P. Burke: Helden, Schurken u. Narren. Europ. V. in der frühen Neuzeit (1981);
 
V. Zur Wiederentdeckung des vergangenen Alltags, hg. v. R. van Dülmen u. N. Schindler (1984);
 H. Bausinger: V. in der techn. Welt (1986);
 
V. in der Moderne, hg. v. U. Jeggle u. a. (1986);
 W. Kaschuba: V. zw. feudaler u. bürgerl. Gesellschaft. Zur Gesch. eines Begriffs u. seiner gesellschaftl. Wirklichkeit (1988);
 
Kultur u. Alltag, hg. v. H.-G. Soeffner (1988);
 
V. - Gesch. - Region, hg. v. D. Harmening u. E. Wimmer (21992);
 
Schausammlung zur histor. V. Begleitbuch, hg. v. K. Beitl
 (Wien 1994).

Universal-Lexikon. 2012.