Kul|tur|so|zio|lo|gie, die:
Teilgebiet der Soziologie, das sich mit einer soziologischen Untersuchung u. Betrachtung der Geschichte u. der Phänomene der ↑ Kultur (1) befasst.
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Kultursoziologie,
spezielle Soziologie, die sich mit der Analyse und Interpretation kultureller Erscheinungen, Zusammenhänge und gesamtgesellschaftliches Kulturmuster in Hinblick auf ihre sozialen Rahmenbedingungen und Grundlagen sowie ihre soziale Bedeutung beschäftigt. Kultursoziologie umfasst im Wesentlichen die Erforschung der Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und Strukturen und kulturellen Objektivationen (»Gestaltwerdungen«), Strömungen, Mustern und Aktivitäten sowie deren soziale (z. B. institutionelle) Verfestigungen. Dabei nehmen die Fragen nach den kulturellen Grundlagen, Impulsen und Rahmenbedingungen, die bestimmte Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Lebens (und umgekehrt) begründen, und inwiefern die kulturellen Orientierungen von Individuen und sozialen Gruppen von Bedeutung für das Leben der Gesamtgesellschaft sein können, eine wichtige Stellung ein.
Der kultursoziologischen Analyse liegen dabei sowohl ein enger als auch ein weiter Kulturbegriff zugrunde. So untersucht die Kultursoziologie die Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen in den »klassischen« kulturellen Bereichen wie Sprache, Religion, Traditionen, Kunst und Literatur, Moral, Recht und Wissen im Rahmen des traditionellen Kulturbegriffes im Hinblick auf ihre sozialen Grundlagen, Rahmenbedingungen und Folgen. Darüber hinaus untersucht sie jedoch auf der Grundlage eines weiten Verständnisses von Kultur die kulturellen Sinnpotenziale und Handlungsmuster des Alltags, der populären Kultur, der Mode u. a. Zivilisationsbereiche (Essgewohnheiten, Körperkultur, menschliche Trieb-, Bedürfnis- und Erlebnishaushalte unter jeweiligen sozialen Vorgaben und Veränderungsprozessen [modellhaft z. B. von N. Elias dargestellt]) und deren Auswirkungen auf andere gesellschaftliche Handlungsbereiche wie Politik, Wirtschaft, Recht, Medien, Wissenschaft, Sozialisation und Bildung, Öffentlichkeit und Privatsphäre.
Mit ihren Analysen ist die Kultursoziologie an der Bildung umfassender soziologischer Theorien beteiligt (z. B. Kultur der Moderne oder »Kulturgesellschaft«) und tangiert sowohl die Kulturanthropologie und -philosophie (E. Cassirer) als auch die Geschichtsphilosophie (A. Weber). Grundlegend wirkten in diesem Zusammenhang Arbeiten, die darauf zielten, die Bedeutung kultureller Faktoren für die Entwicklung bestimmter Gesellschaftsformationen beziehungsweise -strukturen herauszuarbeiten, z. B. M. Webers Untersuchungen zu den Zusammenhängen und Wechselbeziehungen von Protestantismus und Kapitalismus im Hinblick auf die Entstehung der neuzeitlichen europäischen Gesellschaften; G. Simmels Arbeiten zur Modernität und Tragik der zeitgenössischen Kultur, deren spezifische Gestalt er aus dem Wirken antagonistischer, sich gegenseitig steigernder und zugleich begrenzender Triebkräfte ableitet, und Karl Polanyis (* 1886, ✝ 1964) Theorie zur Transformation des vormodernen Europas in die Wirtschaftsgesellschaften und Sozialstaatsmodelle des 19. und 20. Jahrhunderts.
Während sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen unter Berufung auf J. G. Herder eine Kultursoziologie entwickelte, die Kultur als lebendiges Ganzes innerhalb eines organisch aufgefassten Geschichtsprozesses verankert sah und dessen harmonische Entwicklung unter den Bedingungen der Moderne als gefährdet erkannte (A. Weber, H. Freyer, E. Rothacker), spielte Kultur in der soziologischen Betrachtung nach 1945 eine widersprüchliche Rolle. Teils galt sie - etwa in der Perspektive des Strukturfunktionalismus (T. Parsons, Daniel Lerner [* 1917, ✝ 1980], R. Bendix) - als eine Art Medium und Bindeglied der notwendigen gesellschaftlichen Integrations- und Stabilisierungsprozesse, teils - etwa in marxistischer Perspektive - als Ausdruck und Trugbild jeweils bestehender Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse.
Die derzeitige kultursoziologische Diskussion wird zum Teil noch immer von den genannten Ansätzen bestimmt, wobei die idealistisch geprägte Perspektive einer Ausrichtung an den Erscheinungsformen »hoher Kultur« zugunsten der Orientierung an Alltagskulturen modifiziert wurde und sich eine an handlungstheoretischen und sprachphilosophischen Modellen orientierende und auf Verwissenschaftlichung des Gegenstandsbereiches zielende Kultursoziologie (J. Habermas, Ulrich Oevermann, Hans Joas [* 1948]) gegenüber instrumentalisierenden (strukturfunktionalen) und ideologisierenden (lebensphilosophischen) Mustern durchsetzen konnte, die ihrerseits deutlich von hermeneutischen und kulturvergleichenden Ansätzen bestimmt wird. Hinzu sind allerdings auch Neuansätze vonseiten der empirischen Sozialforschung (A. Silbermann, P. Bourdieu, Gerhard Schulze [* 1944], R. Inglehart), der ethnologischen, kulturvergleichenden Forschung (J. Clifford, V. Turner, S. Tyler) und vonseiten einer postmodernen Theoriebildung (Jean Baudrillard [* 1929], J.-F. Lyotard) getreten, die im Besonderen den Inszenierungscharakter kultureller Ereignisse und Orientierungen im Hinblick auf gesellschaftliche Entwicklungen, individuelle Bewusstseinslagen und soziostrukturelle Differenzierungen herausarbeiten beziehungsweise kritisch reflektieren (Stefan Müller-Doohm, O. K. Werckmeister).
Aktuelle Fragestellungen der Kultursoziologie betreffen die Bedeutung und weitere Entwicklung des Medien- und Bildungssektors ebenso wie die Fragen der Beziehungen von Mehrheits- und Minderheitenkulturen (»Multikulturalismus«), die Perspektiven globaler Interaktionsprozesse sowie die besonders durch die Entwicklungen in Europa seit 1990 aufgeworfenen Fragen nach den kulturellen Voraussetzungen von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungsprozessen (»Transformationsgesellschaften«) und nach den kulturellen Grundlagen von Kriegen, Konflikten und Gewalt.
H. P. Thurn: Soziologie der Kultur (1976);
D. u. K. Claessens: Kapitalismus als Kultur. Entstehung u. Grundl. der bürgerl. Gesellschaft (Neuausg. 1979);
R. Münch: Kultur der Moderne, 2 Bde. (1986);
W. L. Bühl: Kulturwandel (1987);
H.-G. Soeffner: Kultur u. Alltag (1988);
O. K. Werckmeister: Zitadellenkultur (1989);
Sozialstruktur u. Kultur, hg. v. H. Haferkamp (1990);
J. C. Alexander: Soziale Differenzierung u. kultureller Wandel (1993);
W. Lipp: Drama Kultur, 2 Tle. (1994);
Kulturinszenierungen, hg. v. S. Müller-Doohm u. a. (1995);
P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftl. Urteilskraft (a. d. Frz., Neuausg. 81996);
Gerhard Schulze: Die Erlebnis-Gesellschaft. K. der Gegenwart (61996);
F. H. Tenbruck: Perspektiven der K. (1996).
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Kul|tur|so|zi|o|lo|gie, die: Teilgebiet der Soziologie, das sich mit einer soziologischen Untersuchung u. Betrachtung der Geschichte u. der Phänomene der ↑Kultur (1) befasst.
Universal-Lexikon. 2012.