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Funktionentheorie
Funk|ti|o|nen|the|o|rie 〈f. 19Gebiet der höheren Mathematik, das mithilfe der Infinitesimalrechnung Funktionen von komplexen Veränderlichen untersucht

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Funktionentheorie,
 
allgemein übliche Bezeichnung für die komplexe Analysis, d. h. die Infinitesimalrechnung von Funktionen w = f (z) mit komplexen Werten w = u + iv und komplexem Argument z = x + iy, wobei x und y sowie u = u (x, y) und v = v (x, y) reell sind. Soll die Funktion f(z) in der Umgebung einer Stelle z komplex differenzierbar sein (Ableitung f' (z) stetig), so ist dafür notwendig und hinreichend, dass alle ersten partiellen Ableitungen von u und v stetig sind und für sie die cauchy-riemannschen Differenzialgleichungen gelten; u und v sind notwendigerweise Potenzialfunktionen. Man nennt komplexe differenzierbare Funktionen auch holomorphe oder analytische Funktionen.
 
Der wesentliche Unterschied zur reellen Analysis besteht darin, dass komplexe Funktionen, die (auf offenen Mengen) einmal komplex differenzierbar sind, dann auch beliebig oft differenzierbar sind; es gilt sogar, dass sie sich in der Umgebung eines jeden Punktes in Potenzreihen entwickeln lassen (d. h. analytisch oder holomorph sind). Dieses Ergebnis stellt den - für die Theorie zentralen - Zusammenhang zwischen zwei verschiedenen Zugängen zur Funktionentheorie her, nämlich zwischen der cauchy-riemannschen Theorie, die von komplex differenzierbaren Funktionen, deren Kurvenintegralen und der Theorie der Stammfunktionen ausgeht, und der weierstraßschen Theorie, die Funktionen betrachtet, die in der Umgebung eines jeden Punktes in Potenzreihen entwickelbar sind.
 
Die Funktionentheorie, eine weit entwickelte Theorie mit vielen interessanten Ergebnissen, ist deshalb für die Analysis und deren Anwendungen so wichtig, weil viele Sachverhalte der reellen Analysis durch die Betrachtung der entsprechenden komplexen Analysis (z. B. durch Fortsetzung reeller Funktionen ins Komplexe) abgerundet werden können. Es ergeben sich dann vielfach tiefere Einsichten. Komplexe Funktionen können z. B. mithilfe der gaußschen Zahlenebene beschrieben werden. Man denkt sich den Definitionsbereich dargestellt als ein Exemplar der gaußschen Zahlenebene (z-Ebene, z = x + iy) und den Wertebereich als ein anderes Exemplar (w-Ebene, w = u + iv), wobei f(z) als w = u + iv geschrieben wird. Ist f komplex differenzierbar und die Ableitung ≠ 0, so werden Urbildkurven in der z-Ebene auf Bildkurven in der w-Ebene so abgebildet, dass die Schnittwinkel zwischen den Kurven erhalten bleiben (f ist »winkeltreu«). Daher kann man die Abbildungseigenschaften von f z. B. dadurch untersuchen, dass man die Bilder orthogonaler Kurvennetze der z-Ebene in der w-Ebene betrachtet (oder auch umgekehrt). Dies wird u. a. in den Anwendungen (z. B. Strömungslehre) ausgenutzt.
 
Geschichte:
 
Die Theorie der komplexen Funktionen ist im Wesentlichen im 19. Jahrhundert geschaffen worden, obgleich ihre Wurzeln bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zurückreichen, wo gelegentlich bei G. W. Leibniz und J. Bernoulli komplexe Zahlen etwa bei Integrationen herangezogen wurden.
 
L. Euler gelangte über die formale Verwendung komplexer Zahlen zu den Grundzügen einer Theorie der elementaren Funktionen einer komplexen Veränderlichen. Im Zusammenhang mit Aufgaben der Hydromechanik stießen J. d'Alembert und Euler auf die cauchy-riemannschen Differenzialgleichungen für Real- und Imaginärteil einer komplexen Funktion. Der dänische Landmesser C. Wessel (1799), der französische Mathematiker J. R. Argand (1806) und C. F. Gauss (gedruckt 1831) gaben unabhängig voneinander die Deutung komplexer Zahlen in der gaußschen Zahlenebene. Die Theorie der Integration im Komplexen wurde von A. L. Cauchy etwa ab 1815 (cauchyscher Integralsatz, cauchysche Integralformel, Residuensatz) entwickelt. Dass Gauss schon um 1800 eine Theorie entworfen und sie beim Studium der elliptischen Funktionen herangezogen hatte (wie es später N. H. Abel und K. G. J. Jacobi taten), wurde erst bei der Veröffentlichung seines Nachlasses bekannt. Die weitere Entwicklung der Funktionentheorie im 19. Jahrhundert ist v. a. mit den Namen von B. Riemann, K. Weierstrass und F. Klein verknüpft. Riemann kam von physikalischen Vorstellungen her und machte die cauchy-riemannschen Differenzialgleichungen zur Grundlage der Theorie, während Weierstrass die Potenzreihenentwicklung voranstellte und Klein, im Anschluss an Riemann, geometrische Gesichtspunkte besonders stark betonte.
 
Literatur:
 
H. Behnke u. F. Sommer: Theorie der analyt. Funktionen einer komplexen Veränderlichen (31976);
 K. Knopp: F., 2 Bde. (131976-81);
 E. Peschl: F. (21983);
 U. Bottazzini: The higher calculus. A history of real and complex analysis from Euler to Weierstrass (a. d. Ital., New York 1986);
 M. Kline: Mathematical thought from ancient to modern times, 3 Bde. (Neuausg. New York 1990);
 R. Remmert: F., 2 Bde. (2-41995).

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Funk|ti|o|nen|the|o|rie, die <o. Pl.> (Math.): allgemeine Theorie der Funktionen (2).

Universal-Lexikon. 2012.