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Rechtssoziologie
Rẹchts|so|zio|lo|gie 〈f. 19; unz.〉 Zweig der Rechtswissenschaft, der das Recht in seiner Wechselwirkung mit anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten u. Vorgängen untersucht

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Rechts|soziologie,
 
Arbeitsgebiet der Soziologie, das sich in verschiedenen Aspekten mit bestimmten juristischen Disziplinen überschneidet. In einem allgemeinen Sinn befasst sich Rechtssoziologie mit der Wechselbeziehung von Recht und Gesellschaft. Im Rahmen der Grundlagenforschung einer allgemeinen Soziologie fragt Rechtssoziologie nach der sozialen Bedeutung des kodifizierten Rechts einer Gesellschaft und nach den sozialen Normen, Werten, Bräuchen und Sitten, die dem geltenden Recht zugrunde liegen, sowie nach dem Einfluss sozialer Sachverhalte auf das in einer Gesellschaft geltende Recht. Im engeren Sinn erstreckt sich Rechtssoziologie auf die soziologische Erforschung der mit dem Recht befassten sozialen Institutionen und Personen und stellt so eine spezielle Soziologie dar. In entsprechender Weise zeigt die historische Entwicklung der Rechtssoziologie beide Linien. Eine zentrale Bedeutung für die Ausbildung einer eigenständigen Rechtssoziologie haben die entwicklungstheoretischen Ansätze von K. Marx, É. Durkheim und M. Weber gewonnen. Sie stellten ihrerseits Rechtssoziologie in den Zusammenhang globaler Theorien über Gesellschaftsformen, Vergesellschaftungsprozesse und sozialen Wandel und versuchten, v. a. die Entwicklung der modernen, westlich-kapitalistischen Gesellschaften und ihrer Rechtsauffassungen zu erklären. Für Marx steht Recht in Abhängigkeit zur jeweiligen Wirtschaftsverfassung einer Gesellschaft und dient der Absicherung von Vertrags- und damit Herrschaftsverhältnissen. Hieran anknüpfend sind Rechtssysteme in marxistischer Sicht Ausdruck der Produktionsverhältnisse und somit auch an deren Veränderungen und die damit einhergehenden sozialen Prozesse gebunden. Für Durkheim ist Recht dagegen eine zentrale Organisationsform des gesellschaftlichen Zusammenhangs, wobei die Rechtssoziologie das Recht als Kern der jeweils eine Gesellschaft zusammenhaltenden Moral auffasst. In der Perspektive Webers stellt Recht die besondere Form sozialer Regeln dar, deren Einhaltung durch »Zwangsapparate« sichergestellt wird. Durch die Frage, wie dieser Zwang in historischen Gesellschaften ausgeübt wurde, gelangt Weber zur Bestimmung von Herrschaftsformen, die als traditionale, charismatische oder legale Herrschaft eine jeweils die Gesellschaft prägende Form des Rechtssystems mit sich bringen. Den Fortschritt zur Moderne sieht Weber in den sich mit der Entwicklung der Bürokratie ausbreitenden rationalen und formalen Formen der Rechtsanwendung begründet. Hier berührt sich der gesellschaftstheoretische Strang der Rechtssoziologie mit den eher empirisch ausgerichteten Fragestellungen moderner Rechtssoziologie, die sich um die Jahrhundertwende anlässlich der Frage entwickelten, inwieweit richterliche Urteile gegenüber sozialen Gegebenheiten unabhängig sein und welche Folgen Rechtsentscheidungen im Feld sozialer Konflikte und Regelungsprobleme haben können. Daran knüpfte eine bis heute wirksame positivistische, d. h. auf die präzise Erforschung einzelner Sachverhalte ausgehende Richtung der Rechtssoziologie an (Rechtstatsachenforschung). In der gegenwärtig einflussreichsten theoretischen Strömung einer systemtheoretisch fundierten Rechtssoziologie (N. Luhmann) wird Recht als soziales Teilsystem betrachtet, dem die Aufgabe zukommt, gesellschaftliche und politische Fragestellungen und Konflikte einem möglichst abstrakten, also den Partikularinteressen und -umständen entzogenen und zugleich allgemein akzeptierten formalen Prozess- und Entscheidungsmuster zu unterwerfen. Dagegen betrachtet eine Rechtssoziologie im Umfeld der kritischen Theorie Recht als demokratisch zu gestaltendes und zu legitimierendes Machtinstrument, während phänomenologische Ansätze Recht als Feld von jeweils subjektiv und sozial gesetzten Bedeutungen und als Thema entsprechender Vereinbarungen auffassen.
 
Zu den Arbeitsgebieten heutiger Rechtssoziologie gehören neben den traditionellen Fragen nach den sozialen Interessen und Merkmalen der am Rechtssystem beteiligten Personen (Richter, Rechtspfleger, Betroffene) und Institutionen (Legislative, Polizei, Verwaltung) die Fragen, welchen sozialen Einflüssen die Ausprägung eines bestimmten Rechtssystems unterliegt, welchen Einfluss soziale Ungleichheit auf die Rechtsprechung und die Inanspruchnahme von Recht hat, welche Bedeutung rechtliche Entscheidungen für die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens zukommt.
 
Literatur:
 
M. Weber: R. (21967);
 A. Nussbaum: Die Rechtstatsachenforschung (Neuausg. 1968);
 G. Gurvitch: Grundzüge der Soziologie des Rechts (a. d. Frz., 21974);
 T. Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts (41987);
 N. Luhmann: Ausdifferenzierung des Rechts (Neuausg. 1987);
 N. Luhmann: R. (31987);
 K. F. Röhl: R. (1987);
 H. Rottleuthner: Einf. in die R. (1987);
 E. Ehrlich: Grundlegung der Soziologie des Rechts (41989);
 R. Zippelius: Grundbegriffe der Rechts- u. Staatssoziologie (21991);
 M. Rehbinder: R. (31993);
 M. Rehbinder: Abhh. zur R. (1995).

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Rẹchts|so|zi|o|lo|gie, die: Zweig der Soziologie, der sich bes. mit der Wechselwirkung zwischen Rechtsordnung u. sozialer Wirklichkeit befasst.

Universal-Lexikon. 2012.