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Schießbefehl
Schieß|be|fehl 〈m. 1
1. Befehl zu schießen
2. Verpflichtung, auf Flüchtlinge zu schießen

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Schieß|be|fehl, der:
Befehl, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen:
S. erteilen.

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Schießbefehl,
 
im politischen Sprachgebrauch übliche Bezeichnung für die Praxis, »illegale« Grenzübertritte aus und in die SBZ beziehungsweise DDR unter Einsatz der Schusswaffe zu verhindern. Die Grundsätze der Waffenanwendung leiteten sich aus den Schusswaffengebrauchsbestimmungen her, die von den allgemeinen polizeilichen Regelungen der Selbstverteidigung übernommen und schrittweise auf die Bedingungen an der innerdeutschen Demarkationslinie zugeschnitten wurden.
 
Die erste Schusswaffengebrauchsbestimmung für die Grenzpolizei erließ die Deutsche Verwaltung des Innern im Oktober 1947. Sie erlaubte den Waffengebrauch bei Notwehr sowie zur »Festnahme gefährlicher Verbrecher«. Mit der Verschärfung des Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1952 legte der Befehl 20/52 des Ministeriums des Innern (MdI) vom Mai 1952 die Waffenanwendung bei bewaffnetem Widerstand, bei der Abwehr von Überfällen ohne Waffe sowie Fluchtversuchen fest (»erster Schießbefehl«). In der Abfolge hatten Anruf - Warnschuss - Zielschuss zu erfolgen. Im Juli 1952 erließ das MdI eine »Vorläufige Instruktion des Schusswaffengebrauchs«, die zusätzlich die Belassung der Getöteten zwecks Untersuchung am »Tatort« anwies. Im Juni 1960 verabschiedete der Nationale Verteidigungsrat (NVR) eine Direktive für die Westgrenze, die die »Gewährung der Unantastbarkeit der Grenze« betonte und die Waffenanwendung bei bewaffneten Überfällen sowie zur Festnahme bei Widerstand und Flucht erlaubte, »wenn keine andere Möglichkeit« vorhanden sei. Im gleichen Monat bestimmte der Befehl 39/60 den Waffeneinsatz zusätzlich auf Befehl des Vorgesetzten bei Widerstand oder Flucht. Scheinbar blieb dem Grenzpolizisten nach den Schusswaffengebrauchsbestimmungen ein Ermessensspielraum der Waffenanwendung. Wenngleich es im definitorischen Sinne somit einen Schießbefehl nicht gab, machte die SED-Führung in internen Anweisungen deutlich, dass jeder Fluchtversuch auch mit Waffengewalt zu verhindern sei.
 
Den letzten restriktiven Schritt zur totalen Abschottung leitete die DDR mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. 8. 1961 ein. Trotz aller Absperrmaßnahmen nutzten Hunderte DDR-Bürger die letzte Chance zur Flucht; bis zum September gelangen über 200 Grenzdurchbrüche. Deshalb forderte E. Honecker bei der Lagebesprechung des Zentralen Stabes des Mauerbaus am 20. 9. 1961: »Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden!« Damit kriminalisierte er die DDR-Flüchtlinge und erhob die politische Forderung nach rigorosem Waffengebrauch gegen Fluchtwillige. Mit der Unterstellung der Deutschen Grenzpolizei als Grenztruppen unter das Ministerium für Nationale Verteidigung galten auch für diese die Schusswaffenbestimmungen der NVA, die im Befehl 76/61 des Verteidigungsministers vom 6. 10. 1961 für die Grenztruppen bedeutend erweitert wurden. Die Prinzipien des Waffeneinsatzes gegen »Grenzverletzer« blieben erhalten; erstmalig sprach eine Bestimmung jedoch von der »Vernichtung« von Personen. Den von der SED-Führung gewünschten Grundsatz der Waffenanwendung gegen DDR-Flüchtlinge bestätigte Honecker auf der Sitzung des NVR am 3. 5. 1974. Er betonte, dass »bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch« gemacht werden müsse und die »Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen« seien. Die förmliche Rechtsgrundlage des Schießbefehls bildete das Grenzgesetz vom 25. 3. 1982, dessen § 27 das Recht zur Waffenanwendung bei der Verhinderung der Aus- und Fortführung einer Straftat festschrieb. Ob der »ungesetzliche Grenzübertritt« nach § 213 StGB der DDR ein Verbrechen oder ein Vergehen im rechtlichen Sinne war, blieb belanglos, da im politischen Sprachgebrauch, in der im Zusammenhang mit dem Grenzgesetz ergangenen Dienstvorschrift 18/1 und den mündlichen Belehrungen zum Grenzdienst alle Fluchtversuche als »Verbrechen« behandelt wurden.
 
Nach dem Sturz des SED-Regimes 1989 und dem Beitritt der DDR auch zum Rechtssystem der Bundesrepublik (1990) erließ die Justiz wegen des Vorwurfs der gemeinschaftlichen Anstiftung zur Tötung gegen Honecker Haftbefehl und führte Gerichtsverfahren (die so genannten Mauerschützenprozesse) gegen ehemalige Grenzsoldaten, Generale der Grenztruppen und Politbüro- sowie NVR-Mitglieder durch. Die in ihrer Zulässigkeit umstrittenen Verfahren finden wegen des auch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) so bewerteten krassen Widerspruchs des Schießbefehls zu anerkannten rechtsstaatlichen, völker- und menschenrechtlichen Prinzipien mehrheitlicher Befürwortung. Das BVerfG bestätigte in seinem Beschluss vom 24. 10. 1996 die Strafbarkeit von Mitgliedern des NVR sowie eines Angehörigen der Grenztruppen der DDR wegen der Tötung von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze. Es stellte fest, dass Personen, die den Schießbefehl erließen oder zu dessen Befolgung aufforderten, wegen Teilnahme oder mittelbarer Täterschaft strafrechtlich verantwortlich sein können. Ein Rechtfertigungsgrund für die Körperverletzungs- und Tötungsdelikte ergebe sich weder aus § 27 Grenzgesetz noch aus der Staatspraxis der DDR.
 
Die Zahl der zwischen 1948 und 1989 an der innerdeutschen Grenze getöteten Menschen ist nicht endgültig ermittelt. Die Angaben schwanken zwischen den bislang festgestellten 265 und der auch die Opfer an Westgrenzen anderer Ostblockstaaten erfassenden Zahl von circa 900 (Schätzung) durch Schüsse, Minen und Selbstschussanlagen Getöteten; unter ihnen befanden sich auch 27 Grenzsoldaten.

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Schieß|be|fehl, der: Befehl, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen: S. erteilen.

Universal-Lexikon. 2012.