Zi|vi|li|sa|ti|ons|kri|tik 〈[ -vi-] f. 20; unz.〉
1. 〈i. w. S.〉 Kritik an der fortschreitenden Zivilisation u. ihren Folgeerscheinungen für die Gesellschaft
2. 〈i. e. S.; Philos.〉 Kritik an der Fortentwicklung der Zivilisation, die mit einem Verfall der Kultur einhergeht; →a. Kulturkritik
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Zi|vi|li|sa|ti|ons|kri|tik, die <o. Pl.>:
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Zivilisationskritik,
Kritik an den Folgeerscheinungen der fortschreitenden Entwicklung und Differenzierung gesellschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher Strukturen, die oft als Entfremdung, Verdinglichung und Versachlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen, Ökonomisierung und Rationalisierung der Lebensführung beschrieben werden. Als Folge dieser Entwicklung werden Sinnverlust und Werteverfall gesehen. Zivilisationskritik kann sowohl aus konservativen, aus regressiven und reaktionären, aber auch aus progressiven, sozialkritischen und revolutionären Perspektiven formuliert werden. Ansätze zur Zivilisationskritik finden sich bereits in der Antike (Platon) und - als Kritik an der Selbstgewissheit der europäischen Zivilisationsvorstellungen - in der frühen Neuzeit bei M. de Montaigne. Als Zeitströmung tritt Zivilisationskritik dagegen erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Reaktion auf die Entwicklungen der Industriegesellschaft und auf die globale Ausbreitung europäischer Herrschaft und Lebensstile in Erscheinung, wobei diese Zivilisationskritik auf Modelle des 18. Jahrhunderts zurückgreifen konnte (G. Vico, Louis Armand de Lahontan, * 1666, ✝ um 1715, D. Diderot, J.-J. Rousseau). Neben religiösen und visionären Kritiken (W. Blake) finden sich auch utopische (R. Owen) und exotische Entwürfe (V. A. Segalen). Die Vorstellung einer Rückkehr in vorindustrielle Zeiten (W. Morris) steht neben einer kulturkritisch und lebensphilosophisch geprägten Bestandsaufnahme (F. Nietzsche). Die Problematik einer Zivilisationskritik, die ihre Existenz eben jenem Zivilisationsprozess verdankt, den sie ablehnt, wird nicht zuletzt durch die Tatsache charakterisiert, dass sich berühmte Texte der Zivilisationskritik, die aus außereuropäischer Perspektive formuliert waren, als Fälschungen europäisch-weißer Provenienz erwiesen haben, z. B. Erich Scheurmanns (* 1878, ✝ 1957) »Der Papalagi« (1920) und die »Rede des Häuptlings Seattle« (1974). Aktuelle Zivilisationskritik wird auch von ökologischen, entwicklungspolitischen und feministischen Zielvorstellungen geprägt. (Exotismus, Kulturkritik)
S. Diamond: Kritik der Zivilisation. Anthropologie u. die Wiederentdeckung des Primitiven (a. d. Amerikan., 1976);
M. Spöttel: Die ungeliebte »Zivilisation«. Z. u. Ethnologie in Dtl. im 20. Jh. (1995).
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Zi|vi|li|sa|ti|ons|kri|tik, die <o. Pl.>: Kritik an den Folgeerscheinungen der ↑Zivilisation (1 a): gab es ... eine ... ideologische Nähe zwischen diesen medizinkritischen Massenbewegungen und dem Nationalsozialismus ...: Beide beriefen sich ... auf Natürlichkeit, übten Z. (Jütte, Medizin 49).
Universal-Lexikon. 2012.