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Montaigne
Montaigne
 
[mɔ̃'tɛɲ], Michel Eyquem de [ɛ'kɛm-], französischer Schriftsteller und Philosoph, * Schloss Montaigne (heute zu Saint-Michel-de-Montaigne, Département Dordogne) 28. 2. 1533, ✝ ebenda 13. 9. 1592; erhielt eine humanistische Schulbildung, studierte Rechtswissenschaften in Toulouse und Bordeaux, war Steuerrat in Périgueux und 1557-70 Parlamentsrat in Bordeaux. 1570 legte er alle Ämter nieder, 1571 zog er sich auf sein Schloss zurück, wo er 1572 mit den Aufzeichnungen zu »Les Essais« begann (1580, erweiterte Ausgabe 1588 und 1595; deutsch »Michaels Herrn von Montaigne Versuche«, auch unter dem Titel »Essays«). 1580/81 unternahm er eine Bäderreise nach Italien, die in seinem »Journal de voyage en Italie, par la Suisse et l'Allemagne« beschrieben ist (herausgegeben 1774; deutsch »Reisen durch die Schweiz und Italien«, 2 Bände); 1581-85 war er Bürgermeister von Bordeaux.
 
Montaigne ist einer der bedeutendsten Vertreter der französischen Renaissanceliteratur. In zunehmend freier Verwendung antiker Überlieferung (Sokrates, Lukrez, Horaz, Seneca, Plutarch u. a.) entwickelte er die »Essais« als neue, eigenständige Form meditierenden, sich selbst »erprobenden« Denkens. Im Zentrum der breit gefächerten Thematik (u. a. Philosophie, Politik, Geschichte, Religion, Erziehung, Literatur, persönliche Lebensführung) steht der Mensch, den er mit dem Ziel der Selbstklärung und Selbstfindung und einer von ethischen Normen und von jeglicher Systematisierung freien Beobachtung in seiner Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Veränderlichkeit beschreibt, wobei die »Essais« immer wieder bewusst in die Selbstanalyse einmünden. Montaignes offenem Denkstil entspricht eine assoziativ-induktive, sich selbst ständig relativierende Darstellung. Mit diesem Verfahren der Urteilsenthaltung und dem Zweifel an der Möglichkeit gesicherter Erkenntnis (daher Montaignes Devise »Que sais-je?«, »Was weiß ich?«) sowie an der Existenz objektiver Wahrheit wurde Montaigne - im Anschluss an antike Traditionen (z. B. Pyrrhon von Elis und Sextus Empiricus) - zum Begründer des neuzeitlichen Skeptizismus. Montaignes Skepsis ist jedoch durch eine lebens- und welterschließende Offenheit gegenüber der Komplexität der Erscheinungen gekennzeichnet. Sie zeigt sich auch in der Auseinandersetzung mit dem Tod: Aus der Erkenntnis menschlicher Unvollkommenheit und Kreatürlichkeit und dem Vertrauen in die Natur resultiert eine heiter-gelassene Haltung gegenüber dem Tod ebenso wie geistige Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber dem Leben; christliche Glaubenswahrheiten und Jenseitsvorstellungen spielen demgegenüber keine Rolle. Der Gedanke der individuellen Autonomie prägt auch Montaignes Erziehungskonzeption, die - hierin Ideen J.-J. Rousseaus vorwegnehmend - nicht eine Anhäufung von Wissen, sondern ein eigenständiges Lernen nach dem Erfahrungsprinzip im Blick auf eine sich frei entfaltende, selbstständig urteilende und handelnde Persönlichkeit vorsieht. Geistige Unabhängigkeit war ferner bestimmend für Montaignes Haltung in den religiös-politischen Auseinandersetzungen der Religionskriege, in die er verschiedentlich als Mittler zwischen den Parteien (u. a. als Berater Heinrichs III. und Heinrichs IV.) involviert war. Sein erkenntnistheoretischer Skeptizismus führte ihn zur Ablehnung extremer Positionen und zur Anerkennung der bestehenden Institutionen als Ordnungsfaktoren kirchlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Lebens.
 
Die »Essais« sind das erste bedeutende Beispiel weltmännischer Laienphilosophie; zugleich waren sie der Ausgangspunkt für den Essay als literarische Gattung. Mit seiner systemfreien Erörterung moralphilosophischer Themen wurde Montaigne zum Begründer der Moralistik, mit seiner liberalen Geisteshaltung hat er u. a. die Aufklärung entscheidend beeinflusst.
 
Ausgaben: Les Essais, herausgegeben von F. Strowski u. a., 5 Bände (1906 bis 1909, Nachdruck 1981); Œuvres complètes, herausgegeben von A. Armaingaud, 12 Bände (1924-41); Œuvres complètes, herausgegeben von R. Barral u. a. (1967); Œuvres complètes, herausgegeben von A. Thibaudet u. a. (Neuausgabe 1985).
 
Gesammelte Schriften, herausgegeben von O. Flake u. a. (1-21908-15); Essais, übersetzt von H. Lüthy (1953); Essais, Auswahl und Nachwort von R.-R. Wuthenow (1983).
 
Literatur:
 
A. Bailly: M. (Paris 1942);
 W. E. Traeger: Aufbau u. Gedankenführung in M.s Essays (1961);
 A. Compagnon: Nous, M. de M. (Paris 1980);
 
M. et les essais, hg. v. P. Michel (ebd. 1983);
 P. Burke: M. zur Einf. (a. d. Engl., 1985);
 M. Conche: M. et la philosophie (Villers-sur-Mer 1987);
 H. Friedrich: M. (31993);
 J. Starobinski: M. Denken u. Existenz (a. d. Frz., Neuausg. 4. Tsd. 1993);
 Uwe Schultz: M. de M. (21996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Montaigne und die Moralistik
 

Universal-Lexikon. 2012.