Akademik

Chartres
I
Chartres
 
[ʃartr], Stadt in Frankreich, Verwaltungssitz des Départements Eure-et-Loir, an der Eure, 39 500 Einwohner; katholischer Bischofssitz und Wallfahrtsort; Kunstmuseum. Marktzentrum der Beauce mit Nahrungs- und Futtermittelindustrie, Maschinenbau, elektrotechnische und elektronische Industrie, Herstellung von Parfüms.
 
Stadtbild:
 
Die im 11. Jahrhundert errichtete Kathedrale fiel Bränden 1134 und 1194 zum Opfer (bis auf die Westfassade). Der heutige Bau wurde 1260 geweiht. Die dreischiffige Basilika mit Querhaus, fünfschiffigem Chor mit doppeltem, polygonalem Umgang und Kapellenkranz (auf alten Fundamenten) gehört zu den ersten rein gotischen Bauten. Das Mittelschiff ist etwa 130 m lang, 13,85 m breit und 35,5 m hoch (Seitenschiffhöhe 14 m) und wird durch ein Strebewerk aus Pfeilern und zweifachen Bögen abgestützt; unter dem Chor die Krypta Saint-Lubin (9. Jahrhundert); die Krypta des Heiligen Fulbertus (1020-24) unter Chorhaupt und Seitenschiffen ist mit 108 m Länge die größte romanische Krypta Frankreichs. Der Südturm ist 106 m, sein Helm 45 m hoch; der Nordturm mit spätgotischem Helm von 1507-13 ist 115 m hoch. Die Kathedrale von Chartres ist besonders bekannt durch den reichen Figuren- und Reliefschmuck der Portale: »Königsportal« der Westfassade (gegen 1145-55), dessen Säulenfiguren am Anfang der Entwicklung zur gotischen Skulptur stehen; Nordquerhausvorhalle (um 1200-50); Südquerhausvorhalle (um 1215 bis nach 1240). Von diesen Skulpturen ging eine weit reichende Wirkung auf die französische und deutsche Skulptur des 12.-13. Jahrhunderts aus. Bedeutend ist der erhaltene Zyklus von rd. 150 farbigen Glasfenstern, u. a. die drei Westfenster (um 1160), die Fensterrosen der Westfassade und des Südquerhauses (um 1210-20, Durchmesser 13,35 m) und die Folge von 22 Szenen aus dem Leben Karls des Großen im Chorumgang (um 1200-20). In den Boden des Mittelschiffs ist das »Labyrinth« (294 m lang) eingelassen, das die Gläubigen auf den Knien durchmaßen. Die Kathedrale wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. - In der Kirche Saint-Pierre (10.-14. Jahrhundert) Glasfenster aus dem 14. und 16. Jahrhundert; im ehemaligen Bischofspalast (17./18. Jahrhundert) das Musée des Beaux-Arts.
 
Geschichte:
 
Chartres, das antike Autricum, Hauptort der gallischen Carnuten, ist seit dem 4. Jahrhundert Bischofssitz; die fränkische Grafschaft Chartres (das »Chartrain«) kam im 10. Jahrhundert an das Haus Blois, 1286 durch Kauf an die Krone und wurde 1528 Herzogtum.
 
Literatur:
 
R. Hoyer: Notre-Dame de C.: Der Westkomplex, 2 Tle. (1991);
 W. Sauerländer: Das Königsportal in C. (11.-12. Tsd. 1991);
 M. Büchsel: Die Skulptur des Querhauses der Kathedrale von C. (1995).
 
II
Chartres
 
[ʃartr], Schule von Chartres, eine Philosophen- und Theologenschule, als deren Begründer Fulbert von Chartres (* um 960, ✝ 1028) angesehen wird, deren Anfänge jedoch bis ins 5. Jahrhundert zurückverfolgt werden können. Sie hatte ihre Blütezeit im 12. Jahrhundert und bereitete die Hochscholastik vor. Studieninhalte bildeten die sieben freien Künste (Artes liberales) und neben der christlichen Überlieferung wieder die antike Literatur, die Philosophie des Aristoteles (v. a. die logischen Schriften) und Platons (»Humanismus von Chartres«); Schwerpunkte waren Naturphilosophie und Medizin, auf der Grundlage der Schriften von Hippokrates und Galen. Schließlich öffnete sich die Schule dem Einfluss der arabischen Philosophie und Naturwissenschaft (Abu Maschar, Adelard von Bath). Philosophisch war sie v. a. durch den Neuplatonismus des Boethius und des Chalcidius geprägt. Themen der Theologie waren die Schöpfungslehre und die Gottes- und Trinitätslehre. Dabei wurde eine Vermittlung philosophischer Kosmologie und christliche Überlieferung angestrebt (z. B. Bernardus Silvestris); die Erkenntnis Gottes erfolgte zum Teil durch Zahlenspekulationen (Thierry von Chartres). - Führend waren in der Schule von Chartres im 12. Jahrhundert: Ivo von Chartres galt als Autorität im kanonischen Recht; Bernhard von Chartres suchte zwischen Platon und Aristoteles zu vermitteln; Gilbert de la Porée, ein Theologe von großer Belesenheit und großem Einfluss auf die Scholastik; Thierry von Chartres, u. a. Verfasser eines Lehrbuches der sieben freien Künste (»Heptateuchon«); Wilhelm von Conches verband humanistische Studien mit Naturphilosophie; Bernardus Silvestris; Johannes von Salisbury war um eine Förderung der aristotelischen Logik bemüht; Clarembald von Arras (✝ um 1170) kommentierte Boethius. Der weit reichende Einfluss der Schule von Chartres erstreckte sich u. a. auf Otto von Freising, Joachim von Fiore und Nikolaus von Kues; sie prägte die beginnende Entwicklung der profanen Wissenschaften.
 

Universal-Lexikon. 2012.