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ukrainische Sprache
ukrainische Sprache,
 
früher auch ruthenische Sprache oder fälschlich kleinrussische Sprache, gehört mit der russischen und weißrussischen Sprache zur ostslawischen Gruppe der slawischen Sprachen; nach der Zahl der Sprecher zweitgrößte slawische Sprache, gesprochen von etwa 38 Mio. Menschen in der Ukraine und etwa 6 Mio. in anderen Nachfolgestaaten der UdSSR, daneben von kleineren Gruppen in den benachbarten Staaten Polen, Slowakei und Rumänien sowie in den USA (etwa 1 Mio.), Kanada (etwa 700 000), Argentinien, Brasilien und Australien.
 
Die und S. wird in kyrillischer Schrift geschrieben, in einer Variante der russischen Kyrilliza. Sie wird nach dem Schriftsteller P. O. Kulisch, der ein weitgehend phonetischen Prinzipien folgendes Alphabet entwickelte, »kulišivka« genannt.
 
Der Wortakzent, der auf jede Silbe fallen kann, ist frei und innerhalb des Paradigmas beweglich. Unbetonte Silben werden kaum merklich reduziert.
 
Phonematik
 
und Phonetik: Die und S. verfügt über sechs Vokal- (i, y, e, u, o, a) und 32 Konsonantenphoneme. Ausgeprägt sind hier die Palatalitäts- und Stimmtonkorrelationen. 22 harten Konsonantenphonemen stehen 10 weiche (palatalisierte und j) gegenüber, die mit Ersteren die Paare d-d', t-t', ʒ-ʒ', c-c', z-z', s-s', n-n', l-l', r-r' bilden. Neben neun Sonorlauten gibt es 23 Geräuschlaute, die sich in 11 stimmhafte und stimmlose Paare einteilen lassen, an denen das nur in onomatopoetischen und Fremdwörtern vorkommende f nicht teilhat.
 
Weitere Besonderheiten sind: die häufige Alternation von [i] und [e] und von [i] und [o] in geschlossenen und offenen Silben, z. B. pič', Genitiv péči »Ofen«, nis, Genitiv nosa »Nase«; [i] und [u] werden vor und nach Vokal in der Regel zu [j] und [u̯], z. B. brat i sestrá »Bruder und Schwester«, aber: sestrá j brat; vin u cháti »er ist im Haus«, aber: voná v cháti »sie ist im Haus«; v wird nach Vokalen am Silben- und Wortende als [u̯] ausgesprochen, z. B. pravda [prau̯da] »Wahrheit«, krov [krou̯] »Blut«.
 
Morphologie
 
und Syntax: Das Nomen kennt drei Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum) und wird nach verschiedenen (jeweils harten und weichen) Stämmen dekliniert. Es gibt sieben Kasus, jedoch besitzt der Vokativ nur im Singular der Maskulina und Feminina besondere Formen. Die Belebtheitskategorie (im Singular der Maskulina wird bei Lebewesen der Genitiv für den Akkusativ verwendet) erstreckt sich auch auf den Plural aller Substantive, die Lebewesen bezeichnen, wovon Haustiere allerdings in der Regel ausgenommen sind (sie haben im Akkusativ die Form des Nominativs).
 
Die meisten Adjektive haben keine speziellen prädikativen Formen. Für Nominativ und Akkusativ Singular bei Feminina und Neutra sowie im Plural aller Adjektive werden in der Regel kontrahierte Formen verwendet.
 
Das Verbsystem ist durch den Aspekt (perfektiv und imperfektiv) bestimmt. Modus- (Indikativ, Konditional, Imperativ) und Tempussystem (Präsens, Imperfekt, Futur; ein Plusquamperfekt wird nur selten verwendet) sind schwach entwickelt. Charakteristisch für das Präsens sind der Wegfall der Endung oder ihre Weichheit (-t') in der 3. Person Singular und die Weichheit der Endung der 3. Person Plural (-t'). Die Vergangenheitsformen werden nur in Genus und Numerus verändert (buv, bulá, buló; bulý »er, sie, es war; sie waren«). Das Futur wird von den Präsensformen der perfektiven Verben oder periphrastisch mit den Präsensformen des Hilfsverbs búty und imperfektivem Infinitiv oder durch die Formen -mu, -meš, -me, -mem(o), -mete, -mut', die an den Infinitiv angehängt werden, gebildet. - In der Syntax ist der Gebrauch des unpersönlichen neutralen Passivpartizips auf -no, -to, das mit Akkusativobjekt verwendet wird, charakteristisch, z. B. výkonano prácju »die Arbeit wurde erledigt«.
 
Die Lexik weist typische gemein- und ostslawische Züge auf. Es gibt eine Reihe von Lehnwörtern aus dem Russischen, Polnischen, Griechischen und Lateinischen sowie den westeuropäischen Sprachen. Bei vielen deutschen Lehnwörtern muss man polnische Vermittlung annehmen.
 
Die Dialekte werden in drei Gruppen eingeteilt: eine nördliche (nördlich der Linie Luzk-Kiew-Sumy), eine südwestliche (westlich der Linie Fastiw-Balta) und eine südöstliche. Letztere bildet die Grundlage der modernen ukrainischen Literatursprache.
 
Geschichte:
 
Die Periode vom 7. bis 12. Jahrhundert wird als altukrainisch bezeichnet. Mit der Christianisierung des Kiewer Reiches (988) begann das altrussische (altostslawische) Schrifttum (russische Literatur). In der Periode des frühen Mittelukrainischen (12.-15. Jahrhundert) drangen Elemente der und S. in die altrussisch-kirchenslawische Texte ein, z. B. wird e (aus e und ē), das zu i wurde, nun auch als solches geschrieben. Die wichtigsten lautlichen und morphologischen Veränderungen ergaben sich in der Periode des Mittelukrainischen vom 16. bis 18. Jahrhundert. Durch die Angliederung der Ukraine an Polen-Litauen im 14.-17. Jahrhundert wurde der polnische Einfluss verstärkt. Mehrere Revisionen des Kirchenslawischen im 14./15. und im 16./17. Jahrhundert verhinderten jedoch eine Aufwertung zur Schriftsprache, trotz einer entwickelten, polnisch beeinflussten Barockliteratur. Erst in der Romantik wurde auf der Grundlage der Volkssprache die Literatursprache geschaffen, die jedoch wegen der Verbote der russischen Regierung (1863 und 1876) nicht im öffentlichen Gebrauch zugelassen war. Die Verlagstätigkeit konzentrierte sich daraufhin in der zu Österreich gehörenden Westukraine (Galizien), wo derartige Verbote nicht bestanden. Erst in der Zeit zwischen 1905 und 1914 und in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution konnte sich die und S. zu einer Literatursprache, die in allen Kommunikationsbereichen verwendet wurde, entwickeln. Seit den 30er-Jahren wiederum zugunsten des Russischen zurückgedrängt, kann sie sich mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 ungehindert entfalten.
 
Literatur:
 
Wörterbücher: Ukrajins'ko-rosijs'kyj slovnyk, hg. v. I. N. Kiričenko, 6 Bde. (Kiew 1953-63);
 
Slovnyk ukrajins'koji movy, hg. v. I. K. Bilodid u. a., 11 Bde. (ebd. 1970-80);
 
Russko-ukrainskij slovar', bearb. v. I. K. Bilodid: u. a., 3 Bde. (ebd.31987-88);
 
Nimec'ko-ukrains'kyj slovnyk, hg. v. E. I. Lysenko (ebd. 1978);
 
Ukrains'ko-nimec'kyj slovnik, hg. v. E. I. Lysenko: (ebd. 1983);
 Z. Kuzelja u. J. B. Rudnyc'kyj: Ukrainisch-dt. Wb. (31987).
 
Sprachgeschichte: J. B. Rudnyc'kyj: An etymological dictionary of the Ukrainian language, auf zahlr. Tle. ber. (Winnipeg 1962 ff.);
 G. Y. Shevelov: Die ukrain. Schriftsprache 1798-1965 (a. d. Ukrain., 1966);
 
Istorija ukrajins'koji movy, hg. v. V. O. Vynnyk u. a., 4 Bde. (Kiew 1978-83);
 
Etymolohičnyj slovnyk ukraïns'koï movy, bearb. v. O. S. Mel'nyčuk u. a., auf 7 Bde. ber. (ebd. 1982 ff.).
 
Gesamtdarstellungen und Grammatiken: Sučasna ukrajins'ka literaturna mova, hg. v. J. K. Bilodid, 5 Bde. (Kiew 1969-73);
 D. Kysylcja: Gramatyka ukrajins'koji movy, 2 Bde. (Toronto 1971/72);
 R. G. A. Debray: Guide to the Slavonic languages, Bd. 3 (Columbus, Oh., 31980);
 V. M. Rusanovskij: Ukrainskaja grammatika (Kiew 1986);
 J. B. Rudnyc'kyj: Lb. der u. S. (51992);
 O. Anhalt-Bösche: Ukrainisch. Einführendes Lb. (1996).

Universal-Lexikon. 2012.