Richterstaat,
Schlagwort für einen als Gefährdung der Demokratie empfundenen Zustand, in dem die richterliche Gewalt gegenüber der Gesetzgebung und Verwaltung ein verfassungswidriges Übergewicht besitzt.
Wenn die Besorgnis geäußert wird, die Bundesrepublik Deutschland nehme Züge eines Richterstaats an, meint dies, die Gerichte hätten ein mit den Prinzipien der Gewaltenteilung unvereinbares Übergewicht erlangt. In der Tat hat das GG den Richtern die Kontrolle von Verwaltung und auch Gesetzgebung in einem früher nicht gekannten Ausmaß übertragen. Die Gerichte haben in den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik diese Befugnisse eher extensiv genutzt. Spielräume der Verwaltung bei der Konkretisierung unbestimmter gesetzlicher Begriffe und bei der Ermessensausübung wurden eng bemessen und durch Heranziehung der verfassungsrechtlichen, insbesondere grundrechtliche Wertmaßstäbe weiter eingeschränkt. Im Verwaltungsrecht, neuerdings speziell im Umweltrecht, hat die Anerkennung von Klagemöglichkeiten Drittbetroffener zu einer ausgedehnten gerichtlichen Kontrolle geführt. Allerdings ist dies auch als Kehrseite der technischen und industriellen Entwicklung zu sehen, die die grundrechtlich geschützten Güter wie Gesundheit und Eigentum neuen Gefährdungen aussetzt. Der Gesetzgeber trägt zu dem Aufgabenzuwachs der Gerichte durch generalklauselartige Wendungen oder Abwägungsformeln bei, die den Richter drängen, selbst konkretisierend und wertend zu entscheiden. Seit einigen Jahren ist die Tendenz der Verwaltungsgerichte erkennbar, Entscheidungsspielräume der Verwaltung großzügiger anzuerkennen und die gerichtliche Kontrolle weniger streng auszuüben.
Eine besondere Ausprägung hat das Schlagwort vom Richterstaat durch die umfangreichen Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) erfahren. Dieses entscheidet in zum Teil hochpolitischen Streitigkeiten anhand der in starkem Maße konkretisierungsbedürftigen Normen des Grundgesetz. Hier wird trotz des Gebots der richterlichen Selbstbeschränkung zum Teil die Gefahr gesehen, dass für das Gemeinwesen weit reichende, durch die Verfassung oft nicht eindeutig vorgezeichnete Entscheidungen nicht von den demokratisch legitimierten Organen, sondern vom BVerfG getroffen werden.
B. Eisenblätter: Die Überparteilichkeit des Bundesverfassungsgerichts im polit. Prozeß (1976);
R. Wassermann: Die richterl. Gewalt (1985).
Universal-Lexikon. 2012.