Ver|fạs|sungs|ge|richts|bar|keit, die:
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Verfassungsgerichtsbarkeit,
das einem höchsten Gericht übertragene Verfahren zur Entscheidung bestimmter verfassungsrechtlicher Streitfragen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit kann entweder, wie beim Supreme Court der USA, dem auch für die einfache Rechtsanwendung zuständigen obersten Gerichtshof oder einem besonderen, nur für die Entscheidung von Verfassungs-Streitigkeiten gebildeten Staats- oder Verfassungsgerichtshof übertragen sein.
Die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit ist aus der rechtsstaatlichen Forderung hervorgegangen, Verfassungskonflikte nicht durch eine politische Machtentscheidung, sondern in Anwendung der Verfassung durch den Spruch eines unabhängigen Gerichts auszutragen; in Bundesstaaten tritt das entsprechende Bedürfnis hinzu, die in der Verfassung festgelegte Kompetenzverteilung zwischen Bund und Gliedstaaten zu sichern. In totalitären Staaten gibt es keine oder keine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit. Aber auch viele demokratische Rechtsstaaten lehnen bis heute die Verfassungsgerichtsbarkeit ab, weil sie Verfassungs-Streitigkeiten wegen ihres vorwiegend politischen Charakters als für eine gerichtliche Entscheidung ungeeignet (nicht justiziabel) ansehen. Angesichts der Grundsätzlichkeit der Verfassungsnormen und der oft hohen politischen Bedeutung einer Streitfrage enthalten Verfassungsgerichtsentscheidungen ein für Gerichtsurteile unübliches Maß an (politischer) Wertung, das in seinem Ausmaß auch vom Charakter des Verfassungstextes und der jeweiligen Kultur der Verfassungsrechtsprechung abhängig ist.
In Deutschland ist die Verfassungsgerichtsbarkeit umfassender ausgeprägt als in den meisten anderen Staaten. Nach Art. 93 GG und dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz in der Fassung vom 11. 8. 1993 entscheidet das Bundesverfassungsgericht besonders in folgenden Fällen und Verfahrensarten über Auslegung und Anwendung der Verfassung: 1) bei Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines Verfassungsorgans oder von Teilen eines solchen Organs (Organstreit, z. B. zwischen Bundestag und Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat, Abgeordneten und Bundestag); 2) bei Streit zwischen Bund und Ländern oder zwischen mehreren Ländern über ihre verfassungsrechtlichen Kompetenzen oder die Anwendung der Bundesaufsicht und des Bundeszwangs (Bund-Länder-Streit); 3) in Verfahren der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle; 4) über Verfassungsbeschwerden; 5) bei Beschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung durch ein Gesetz (Kommunalverfassungsbeschwerde); 6) über das Verbot politischer Parteien (Art. 21 Absatz 2 GG) und die Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG); 7) bei Anklage des Bundestags oder des Bundesrats gegen den Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des GG oder eines anderen Bundesgesetzes (Art. 61 GG).
Daneben besteht in allen deutschen Ländern (außer Schleswig-Holstein) eine unterschiedlich stark ausgebaute Landesverfassungsgerichtsbarkeit; die Staatsgerichtshöfe oder Verfassungsgerichtshöfe der Länder entscheiden in den in der jeweiligen Landes-Verfassung und den Landesgesetzen vorgesehenen Fällen über Auslegung und Anwendung der Landesverfassung.
In Österreich hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) seinen Sitz in Wien; er besteht aus Präsident, Vizepräsident und 12 weiteren Mitglieder. Die Verfassungs-Richter werden aufgrund von Vorschlägen der Bundesregierung, des Nationalrats und des Bundesrats vom Bundespräsidenten ernannt. Sie stehen üblicherweise den beiden größten im Nationalrat vertretenen politischen Parteien nahe. Der VfGH ist zur Gesetzes-, VO- und Staatsvertragsprüfung, zur Prüfung von Bescheiden auf Grundrechtseingriffe (sowie auf Anwendung rechtswidriger Normen; »Sonderverwaltungsgerichtsbarkeit« nach Erschöpfung des Instanzenzuges), zur Entscheidung über Kompetenzkonflikte, Ministeranklagen, Wahlanfechtungen und zur Entscheidung über vermögensrechtliche Ansprüche gegen Gebietskörperschaften berufen. Zusätzlich zur Bescheidbeschwerde können auch Gesetzes- und VO-Prüfungen von direkt betroffenen Bürgern beantragt werden, wenn ein anderer Weg der Rechtsverfolgung unzumutbar ist.
In der Schweiz ist die Überprüfung von Bundesgesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit nicht möglich (Art. 113 Absatz 3 beziehungsweise 114bis Absatz 3 der Bundesverfassung). Kantonale Erlasse und Verfügungen hingegen können mit staatsrechtlicher Beschwerde dem Bundesgericht zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt werden.
C. Pestalozza: Verfassungsprozeßrecht (31991);
K. Schlaich: Das Bundesverfassungsgericht (21991).
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Ver|fạs|sungs|ge|richts|bar|keit, die: von Verfassungsgerichten ausgeübte ↑Gerichtsbarkeit (1).
Universal-Lexikon. 2012.