Korngrenzen,
Kristallographie und Werkstoffkunde: Grenzflächen beziehungsweise -schichten zwischen Kristallbereichen (»Kristalliten« oder »Körnern«) gleicher Phase, aber unterschiedliche Orientierung in polykristallinen Gefügen; gehören die Körner verschiedenen Phasen an, werden die Grenzflächen als Phasengrenzen bezeichnet. Nach der kristallographischen Systematik sind Korngrenzen zweidimensionale Gitterbaufehler in Realkristallen.
Die Korngrenzen haben eine Dicke von einem bis etwa fünf Atomdurchmessern und können mehr oder weniger periodisch strukturiert sein. Sie lassen sich einteilen in Kleinwinkelkorngrenzen (Subkorngrenzen), bei denen der Orientierungsunterschied der Körner im Allgemeinen kleiner als etwa 15º ist, sowie in Großwinkelkorngrenzen, die sich weiter danach unterscheiden lassen, ob die Struktur der Korngrenzen ungeordnet ist und keinen Zusammenhang mit den Gittern der benachbarten Körner zeigt (inkohärente Korngrenzen) oder eine periodische Ordnung besitzt, die im Zusammenhang mit dem Gitterbau und der Orientierung der benachbarten Körner steht (kohärente Korngrenzen). Häufig sind die Korngrenzen aber weder gänzlich inkohärent noch gänzlich kohärent, sondern teil- oder semikohärent. Kleinwinkelkorngrenzen kann man sich als durch eine Aneinanderreihung von Versetzungen (eindimensionale Gitterbaufehler) entstanden vorstellen; sie sind dementsprechend teilkohärent. Besondere Arten von Korngrenzen sind Stapelfehler und Zwillingsgrenzen (Zwillinge); beide sind kohärent.
Korngrenzen (und mit ihnen Korngrößen) haben einen beträchtlichen Einfluss auf Materialeigenschaften, besonders bei metallischen Werkstoffen; dazu gehören Festigkeit, Plastizität, elektrische Leitfähigkeit u. a. Transporterscheinungen, wie die Diffusion von Fremdatomen und Gitterstörstellen. Fremdatome und Verunreinigungen reichern sich in Korngrenzen an und können in diesen im Allgemeinen schneller diffundieren (interkristalline Diffusion) als durch die Körner hindurch (intrakristalline Diffusion). Korngrenzen können daher bevorzugt durch Korrosion angegriffen werden (Korngrenzenkorrosion). Bei genügend hohen Temperaturen können Korngrenzen durch Übergang von Atomen von einem Korn zu dessen Nachbarn wandern, besonders wenn das Material unter mechanischer (innerer oder äußerer) Spannung steht. Diese Wanderung erfolgt in der Regel leichter bei inkohärenten Großwinkelkorngrenzen als bei kohärenten oder als bei Kleinwinkelkorngrenzen. Vorgänge dieser Art spielen eine wichtige Rolle bei der Rekristallisation, bei Kornwachstum und bei der Bildung von Texturen. Die Festigkeit und Duktilität von Metallen hängen gewöhnlich stark von der Möglichkeit der Gleitung von Versetzungen bei der Einwirkung äußerer Kräfte ab. Korngrenzen stellen ein Hindernis für dieses Gleiten dar, und folglich nimmt die Festigkeit mit abnehmender Korngröße zu, die Duktilität dagegen ab. Im Gegensatz hierzu nimmt die Duktilität bei höheren Temperaturen jedoch zu (Korngrenzengleiten, Kriechen). Ein wichtiges technisches Problem ist die Begünstigung von Korrosion (Spannungsrisskorrosion) durch mechanische Spannungen in Korngrenzen.
Universal-Lexikon. 2012.