Schriftsinn,
im Rahmen biblischer Hermeneutik und Exegese die einer bestimmten Bedeutungsdimension zugehörige Aussageabsicht eines biblischen Textes. Seit dem frühen Christentum wurden dabei (im Anschluss an die Hermeneutik der Antike) verschiedene Verstehensebenen unterschieden. Bereits im Neuen Testament findet sich im Hinblick auf das Alte Testament v. a. die Typologie als Deutungsmuster; Aussagen des Alten Testaments werden als »antitypische« Vorprägung der theologischen Aussagen des Neuen Testaments gedeutet. Origenes unterschied einen dreifachen Schriftsinn: den unmittelbaren Wortsinn (Literalsinn; »somatischer« Schriftsinn), den moralisch-belehrenden (»psychischen«) und den geistigen, allegorisch-mystischen (»pneumatischen«) Schriftsinn. Bei Johannes Cassianus findet sich eine vierfache Differenzierung: Neben dem Literalsinn unterscheidet er den allegorischen (Dogmatik), anagogischen (Eschatologie) und tropologischen (Moral) Schriftsinn. Allein die antiochenische Schule betonte in der Schriftauslegung besonders den Literalsinn und übte gegenüber einer darüber hinausgehenden Deutung Zurückhaltung. Das Mittelalter führte über Augustinus und Thomas von Aquino den Gedanken vom drei- beziehungsweise vierfachen Schriftsinn fort. M. Luther konzentrierte im Kontext des Schriftprinzips (sola scriptura) den Schriftsinn auf den Literalsinn, da sich die Schrift selbst auslege, in sich klar und verständlich sei. Von diesem reformatorischen Aspekt mitgeprägt, konnte sich die historisch-kritische Exegese entwickeln, die von evangelischen und katholischen Theologen in großer Übereinstimmung vertreten wird. Auf katholischer Seite wird jedoch, ausgehend von der Kontinuität der Offenbarung, auch ein über das Bewusstsein der Ersttradenten der Offenbarung (der Verfasser der biblischen Schriften) hinausreichender »sensus plenior« (Vollsinn) postuliert, der sich erst von der Gesamtoffenbarung her erschließe. Ähnlich weisen auch evangelische Exegeten auf mögliche reduktionistische Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung hin und sprechen sich für eine dies berücksichtigende umfassendere Auslegung der biblischen Texte aus.
Universal-Lexikon. 2012.