Sprach|erwerb.
Spracherwerb bezeichnet heute nicht mehr nur das Erlernen der ersten Sprache (L 1; L = Abkürzung für lateinisch lingua oder englisch language) beziehungsweise Sprachen durch ein- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder, sondern jede Form des Erlernens menschlicher Sprachen, also auch weiterer Sprachen (L 2, L 3 usw.) mit oder ohne Fremdsprachenunterricht oder den Wiedererwerb zuvor gelernter und dann vergessener Sprachen. Die Sprachlernfähigkeit konstituiert zugleich die menschliche Sprachfähigkeit.
Der Spracherwerb (auch einer später gelernten L 2 oder L 3) ist Teil der Sozialisation des Individuums. Die ersten Grundlagen werden über den L-1-Erwerb in der Interaktion zwischen dem Kleinkind und der Mutter oder anderen Bezugspersonen gelegt. Der Spracherwerb setzt daher nicht erst mit dem ersten gesprochenen Wort ein. Schon mit 4-6 Monaten beginnen Kinder z. B. die perzeptuellen Kategorien ihrer L 1 zu bilden (Sprachperzeption). Gesprochen wird das erste Wort in der Regel mit Ablauf des ersten Lebensjahres, verstanden schon 1-2 Monate vorher (es muss nicht notwendigerweise »Mama« oder »Papa« sein). Mit 4-5 Jahren sind das Lautsystem und die grundlegenden syntaktischen Strukturen weitgehend erworben, die Flexionen mit 6-7 Jahren. Begonnen wird mit der Einwortphase, d. h. mit maximal einem Wort pro kindliche Äußerung, danach folgen zwei und mehr Wörter pro kindliche Äußerung usw., wobei die interne syntaktische Struktur zunehmend komplexer wird. Abgeschlossen ist selbst der L-1-Erwerb nie. Komplexere syntaktische Strukturen oder bestimmte Bereiche des Wortschatzes, z. B. Verwandtschaftsbezeichnungen, werden erst mit 8-12 Jahren zielgerecht verwendet. Zentral für das Verständnis von Spracherwerb ist die Frage nach der Lernbarkeit der sprachlichen Strukturen, danach also, 1) welche Fähigkeiten nötig sind, damit Lernende sich die Zielsprache, z. B. auch im L-2-Erwerb, ohne Zuhilfenahme von Lehrverfahren oder Erklärungen erschließen können, und 2) wie es sich erklärt, dass Lerner, gleichgültig ob Kind oder Erwachsener, L-1- oder L-2-Lerner, sich zwar an der Sprache ihrer Umgebung ausrichten, dabei aber auch entwicklungsbedingt sprachliche Strukturen benutzen, die in dieser Form nicht aus der Sprache ihrer Umgebung kommen können (z. B. bei Negationen wie »ich nicht ein Blödmann« für »ich bin kein Blödmann«). Die Fähigkeit zum Spracherwerb ist gattungsspezifisch. Es gibt keine biologischen Gründe, die festlegen, wie viele Sprachen der Einzelne lernen kann.
Das Erlernen von Sprachen erfordert keine Erklärungen oder Korrekturen durch Eltern oder Lehrer. Lerner können sich die Zielsprache eigenständig erschließen. Sie filtern dabei systematisch bestimmte Elemente aus der Sprache ihrer Umgebung heraus und rekonstruieren auf diese Weise nach und nach die Zielsprache, wobei - unvermeidlich und entwicklungsbedingt - Fehler gemacht werden, die den Lernfortschritt widerspiegeln. Mit einem begrenzten Ausmaß an individueller Variation machen Lerner derselben Sprache die gleiche Art von Fehlern und durchlaufen die gleichen Entwicklungen. Spracherwerb erfolgt intuitiv. Selbst für den Fremdsprachenunterricht ist ungeklärt, in welchem Ausmaß Erklärungen des Lehrers die Lernprozesse im Gedächtnis tatsächlich beeinflussen.
Eine allseits akzeptierte Theorie des Spracherwerbs wenigstens für einzelne Spracherwerbstypen gibt es derzeit nicht, noch weniger eine universelle, die alle Spracherwerbstypen zusammenfasst. Zwei Arten von Ansätzen - funktionalistische und linguistische - lassen sich unterscheiden. Funktionalistische Ansätze erklären auch die Entstehung sprachlicher Strukturen aus allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und können daher in der Regel entwicklungsspezifische Fehler nicht begründen, denn diese Fehler können weder als Imitation oder Konditionieren nach behavioristischen Theorien noch als bedingt durch die allgemeine kognitive Entwicklung (z. B. des logischen Denkvermögens oder der konzeptuellen Entwicklung) entstehen, da bei Spracherwerb Kinder und Erwachsene trotz des unterschiedlichen kognitiven Entwicklungsstandes zum Teil die gleichen Fehler machen. In linguistischen Ansätzen (die von speziell auf die sprachlichen Strukturen ausgerichteten Fähigkeiten ausgehen) wird daher oft angenommen, dass einige Aspekte sprachlichen Wissens angeboren sind und die Sprachentwicklung relativ und unabhängig von der Entwicklung anderer kognitiver Fähigkeiten ist. Nach A. N. Chomsky haben alle Sprachen bestimmte Prinzipien einer allgemeinen Grammatik gemeinsam. Dies und die morphologischen Anpassungen, die im Gaumen- und Zahnbereich bereits bei fossilen Schädeln nachweisbar sind, sowie die Ausbildung von für den Spracherwerb wichtigen Regionen im Großhirn und die Schnelligkeit des Spracherwerbs beim Kind lassen erbliche Grundlagen für den Spracherwerb als wahrscheinlich erscheinen.
H. Clahsen: Normale u. gestörte Kindersprache (1988);
The crosslinguistic study of language acquisition, hg. v. D. I. Slobin, auf mehrere Bde. ber. (Hillsdale, N. J., 1985 ff.);
N. Chomsky: Aspekte der Syntax-Theorie (a. d. Amerikan., Neuausg. 41987);
R. Tracy: Sprachl. Strukturentwicklung. Linguist. u. kognitionspsycholog. Aspekte einer Theorie des Erst-S. (1991);
H. Wode: Psycholinguistik (Neuausg. 1993);
G. Szagun: Sprachentwicklung beim Kind (61996).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Sprache: Einige allgemeine Eigenschaften
Universal-Lexikon. 2012.