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Verhaeren
Verhaeren
 
[französisch vɛra'rɛn, niederländisch vər'haːrə], Émile, belgischer Schriftsteller und Kunstkritiker französischer Sprache, * Sint-Amands (Provinz Antwerpen) 21. 5. 1855, ✝ Rouen 27. 11. 1916; gilt als bedeutendster belgischer Dichter der Moderne, Mitbegründer der literarischen Bewegung um die Zeitschrift »La Jeune Belgique« (1881 ff.). Auf die frühen Gedichtbände, die der Lyrik der Parnassiens nahe stehen (»Les Flamandes«, 1883; »Les moines«, 1886), folgte als Reflex einer inneren Krise eine eher visionäre Tetralogie: »Les soirs« (1888; deutsch »Die Abende«), »Les débâcles« (1888), »Les flambeaux noirs« (1891), »Les apparus dans mes chemins« (1891); die melancholische Introvertiertheit der Verse knüpft thematisch an den Symbolismus an, während der durch Neologismen, eigenwillige Metaphorik und freie Rhythmen geprägte Stil auf den Expressionismus vorausweist. Zunehmend zeichnete sich Verhaerens Werk durch humanitäres Engagement im Sinne einer Neugestaltung der Welt durch industriellen Fortschritt und Sozialismus aus. Noch in »Les campagnes hallucinées« (1893) und »Les villages illusoires« (1895; deutsch »Die geträumten Dörfer«) setzte er dem traditionellen Landleben ein Denkmal, mit »Les villes tentaculaires« (1895; deutsche Auswahl unter dem Titel »Die Großstadt lauert«; auch unter dem Titel »Die Verführung der Städte«) avancierte er, von W. Whitman inspiriert, zum Großstadtdichter. Ein Drama (»Les aubes«, 1898; deutsch »Die Morgenröte«) und die Lyrikbände »Les visages de la vie« (1899; deutsch »Die Gesichter des Lebens«), »Les forces tumultueuses« (1902), »La multiple splendeur« (1906), »Les rythmes souverains« (1910; deutsch »Die hohen Rhythmen«) evozieren - in hymnischen Rhythmen und poetisch exaltiert - Dynamik und Zuversicht, aber auch Desillusion und Rebellion des Menschen in der industrialisierten Großstadtwelt; sie fanden große Resonanz bei den zeitgenössischen kommunistischen und anarchistischen russischen Dichtern, im deutschen Expressionismus, im italienischen Futurismus und im Unanimismus von J. Romains. Ganz anders wirken dagegen die intimeren Töne der Trilogie »Les heures claires« (1896; deutsch »Lichte Stunden«), »Les heures d'après-midi« (1905) und »Les heures du soir« (1911) sowie ein flämisches Fresko »Toute la Flandre« (5 Bände, 1904-11), das ihn zum Nationaldichter der Flamen machte. Der Schock, den der engagierte Humanist und Pazifist durch den Ersten Weltkrieg empfing, spiegelt sich in »La Belgique sanglante« (1915) und »Les ailes rouges de la guerre« (1916) wider. Als Kunstkritiker trat er mit Monographien u. a. über J. Ensor, F. Khnopff, Rembrandt und P. P. Rubens hervor.
 
Ausgaben: Œuvres, 3 Bände (1912-30, Nachdruck 1977).
 
Ausgewählte Gedichte, übersetzt von S. Zweig (31923); Das Leben, das leise, das Leben, das wilde. Gedichte, übersetzt von H. Werner (1982).
 
Literatur:
 
J. M. Culot: Bibliographie de É. V. (Brüssel 1954);
 S. Zweig: É. V. (Neuausg. 1984);
 J. Höfel: Der belg. Lyriker E. V. (1994).

Universal-Lexikon. 2012.