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Expressionismus
Ex|pres|si|o|nịs|mus 〈m.; -; unz.〉 Kunstrichtung Anfang des 20. Jh., gekennzeichnet in der Malerei, bildenden Kunst, Musik durch Streben nach Vergeistigung u. Objektivierung unter Verzicht auf sachlich getreue Wiedergabe der Wirklichkeit, in der Literatur durch Ausdruck von Leidenschaft, Gefühl mit sparsamsten Mitteln bzw. in der Musik durch Dissonanzen, scharfe Rhythmen usw. [zu lat. expressio „Ausdruck“]

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Ex|pres|si|o|nịs|mus, der; - [zu lat. expressio = Ausdruck, zu: exprimere = ausdrücken]:
im Gegensatz zum Impressionismus stehende [Stil]richtung der Literatur, bildenden Kunst u. Musik (bes. im Anfang des 20. Jh.s), deren Grundzug der gesteigerte Ausdruck des Geistig-Seelischen ist:
der literarische, musikalische E.

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Expressionịsmus
 
[zu lateinisch expressio »Ausdruck«] der, -,  
 1) bildende Kunst: im weiteren Sinn Bezeichnung für jede Kunstrichtung, die eine spezifisch subjektive Ausdruckssteigerung mit bildnerischen Mitteln zu erreichen sucht; im engeren Sinn Stilbezeichnungen für eine in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts v. a. in der deutschen Kunst vorherrschende Richtung. Charakteristisch für die expressionistische Kunst des 20. Jahrhunderts, aber auch für einen expressionistischen Stil überhaupt, ist die ausgeprägt subjektive, gegen die Tradition gerichtete Tendenz; Farben und Formen werden nicht nach illusionistischen Gesetzen zum Zweck einer getreuen Wirklichkeitswiedergabe, sondern als Ausdrucksträger eingesetzt, um seelische Momente im Werk zu akzentuieren. Zur Steigerung des inhaltlichen und formalen Ausdrucks bedienen sich die expressionistischen Künstler u. a. der Deformation und der Flächigkeit. Ein Vorbild war die Plastik der Naturvölker. Historische Voraussetzung für die expressionistische Kunst des 20. Jahrhunderts ist die Ablehnung des Naturalismus des 19. Jahrhunderts Vorläufer waren P. Gauguin, V. van Gogh, F. Hodler, J. Ensor, E. Munch und H. de Toulouse-Lautrec. In Deutschland ist der Beginn des Expressionismus 1905 mit der Gründung der Dresdner Malervereinigung Brücke anzusetzen, der neben den Gründungsmitgliedern E. L. Kirchner, E. Heckel und K. Schmidt-Rottluff auch M. Pechstein, Otto Mueller und kurzzeitig auch E. Nolde angehörten. Auch frühe Werke von Künstlern des Blauen Reiters in München zählen zum Expressionismus (W. Kandinsky, F. Marc, A. Macke, Gabriele Münter, A. von Jawlensky). Ein weiteres Zentrum wurde Berlin durch die 1910 von H. Walden gegründete Zeitschrift »Sturm« und die gleichnamigen Ausstellungen, aber auch durch den Zuzug der Brückekünstler aus Dresden (1910) und durch die Künstlergruppe »Die Pathetiker« (1912) mit L. Meidner. Eine eigene Variante des Expressionismus bildeten die rheinischen Expressionisten (H. Nauen, H. Campendonk u. a.). Expressionistische Elemente finden sich auch im Werk M. Beckmanns, C. Rohlfs' und Paula Modersohn-Beckers. Eigenständige Formen des Expressionismus entwickelten in Österreich besonders die Maler O. Kokoschka und E. Schiele, ferner R. Gerstl und H. Boeckl, in Belgien die jüngere Gruppe von Sint-Martens-Latem mit C. Permeke, G. de Smet, F. van de Berghe und A. Servaes. In den Niederlanden nahmen Jacoba van Heemskerk (* 1876, ✝ 1923), Leo Gestel (* 1881, ✝ 1941), Jan Sluyters (* 1881, ✝ 1957) und Jan Wiegers (* 1893, ✝ 1959) Einflüsse der deutschen Expressionisten auf. Als französische Parallele zum deutschen Expressionismus kann der Fauvismus betrachtet werden. Auch C. Soutine, G. Rouault, J. Pascin, M. Kisling und zeitweilig auch M. Chagall malten expressionistisch. Elemente des historischen Expressionismus lebten nach 1945 im abstrakten Expressionismus, im Actionpainting, im Tachismus, in der Malerei der Gruppe Cobra oder in der Art brut und seit Ende der 70er-Jahre bei den Neuen Wilden wieder auf.
 
In der Bildhauerei zeigen neben den Skulpturen Kirchners, Heckels, Pechsteins, Schmidt-Rottluffs und Noldes auch Werke von W. Lehmbruck, E. Barlach und Käthe Kollwitz expressionistische Züge, außerhalb Deutschlands u. a. Plastiken von A. Archipenko, O. Zadkine, O. Gutfreund und A. Hanak.
 
Expressionistische Tendenzen äußerten sich auch in der Architektur. Die frühesten Zeugnisse in Deutschland sind P. Behrens' AEG-Bauten in Berlin (1908-13), H. Poelzigs Fabrik in Luban (1911-12; heute stark verändert) und der Wasserturm in Posen (1911; teilzerstört) sowie M. Bergs Jahrhunderthalle in Breslau (1911-13). Nach dem Ersten Weltkrieg sammelte sich ein Großteil der expressionistischen Kräfte in den beiden Berliner Vereinigungen »Arbeitsrat für Kunst« und »Novembergruppe«. Wichtige schriftliche Zeugnisse jener Zeit sind die »utopischen Briefe«, die zwischen B. und M. Taut und W. Luckhardt, H. Scharoun, Carl Krayl (* 1890, ✝ 1947), H. Finsterlin, Paul Gösch (* 1885, ✝ 1940) u. a. hin und her gingen, die Publikationen B. Tauts sowie die Schriftenreihe »Frühlicht«. Zu den herausragenden baulichen Realisierungen und Entwürfen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland gehören H. Poelzigs Großes Schauspielhaus in Berlin (1918/19; nicht erhalten), L. Mies van der Rohes Projekte eines Bürogebäudes an der Berliner Friedrichstraße (1919) und eines Glashochhauses (1920/21), E. Mendelsohns Einsteinturm in Potsdam (1920/21), P. Behrens' Verwaltungsgebäude der Hoechst AG (1920-24), F. Högers Chilehaus in Hamburg (1922/23), H. Härings Gut Garkau bei Lübeck (1924/25) sowie R. Steiners zweites Goetheanum in Dornach (1924-28). Die größte Breitenwirkung außerhalb des deutschen Sprachraums erzielte die Architektur des Expressionismus in den Niederlanden mit Architekten der »Amsterdamer Schule« wie M. de Klerk, Johan Melchior van der Mey (* 1878, ✝ 1949) und Pieter Lodewijk Kramer (* 1881, ✝ 1961), die sich um den Wohnungsbau verdient machten.
 
Literatur:
 
K. Sotriffer: E. u. Fauvismus (Wien 1971);
 S. von Wiese: Graphik des E. (1976);
 
German expressionism in the fine arts, bearb. v. J. M. Spalek u. a. (Los Angeles, Calif., 1977, Bibliogr.);
 
Expressionisten. Slg. Buchheim, bearb. v. W.-D. Dube u. a., Ausst.-Kat. (1981);
 W. Pehnt: Die Architektur des E. (21981);
 W.-D. Dube: Der E. in Wort u. Bild (1983);
 
Skulptur des E., hg. v. S. Barron, Ausst.-Kat. (a. d. Engl., 1984);
 
Expressionisten, bearb. v. A. Kühnel, Ausst.-Kat. (Berlin-Ost 1986);
 
E. in Holland. Die Architektur der Amsterdamer Schule, hg. v. W. de Wit (a. d. Engl., 1986);
 P. Werkner: Physis u. Psyche. Der österr. Früh-E. (Wien 1986);
 
E. Lit. u. Kunst 1910-1923, bearb. v. P. Raabe u. H. L. Greve, Ausst.-Kat. Dt. Literaturarchiv im Schiller-Nationalmuseum Marbach (22.-23. Tsd. 1990);
 P. Vogt: E. Dt. Malerei zw. 1905 u. 1920 (21990);
 
Graphik des dt. E., Beitrr. v. S. Sabarsky (1991);
 
Moderne Architektur in Dtl. 1900 bis 1950, E. u. neue Sachlichkeit, hg. v. V. Magnago Lampugnani u. R. Schneider, Ausst.-Kat. Dt. Architektur-Museum Frankfurt am Main (1991);
 
E. u. Buchkunst in Dtl. 1907-1927, Beitrr. v. L. Lang (21993);
 S. Vietta u. H.-G. Kemper: E. (51994).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Espressivo und Expressionismus
 
Expressionismus in der bildenden Kunst: Die Alten Wilden
 
Expressionismus in der Literatur: Aufschrei und Zeitdiagnose
 
 2) Literatur: Von der bildenden Kunst wurde der Begriff Expressionismus für die Literatur übernommen. Er wird für die vielfältigen Strömungen der deutschen Literatur gebraucht, die etwa zwischen 1910 und 1920 in radikalem Gegensatz zu den vorangegangenen Stilrichtungen (Naturalismus, Neoromantik, Impressionismus) entstanden waren. - Literarische Vorbilder waren A. Strindbergs Traum- und Visionsspiele (»Nach Damaskus«, 1899), die Dichtungen W. Whitmans, thematisch der französische Symbolismus. Auch Einflüsse des italienischen Futurismus sind nachweisbar. Gemeinsam war den meisten Vertretern des Expressionismus ein neues Lebensgefühl: der Protest gegen das in alten Autoritätsstrukturen erstarrte Wilhelminische Bürgertum und gegen eine zunehmende Mechanisierung des Lebens, die Angst vor einer Bedrohung des Geistes, die Vorahnung einer apokalyptischen Katastrophe. Aus diesem Protest heraus entwarf ein Teil der Expressionisten Bilder eines neuen »geistigen« Zeitalters, einer erneuerten Menschheit in einem ekstatischen Bekenntnis zu individuellem Menschsein, teilweise mit stark religiösen (F. Werfel) und mystischen Zügen (R. J. Sorge, E. Barlach), und rief zu einer Revolution des Denkens auf, die eine politisch-gesellschaftliche Revolution nach sich ziehen sollte. An die Stelle des Kunstgenusses der impressionistischen und symbolistischen Ästhetik traten das »neue Pathos« des Aufbegehrens, das »rasende Leben«, Aktivismus, Intensität des Gefühls. Typisch dafür sind die Titel bedeutender, oft nur kurzlebiger Zeitschriften expressionistischer Gruppen: »Der Sturm« (1910-32, herausgegeben von H. Walden), »Die Aktion« (1911-32, herausgegeben von F. Pfemfert), »Das neue Pathos« (1913-19, herausgegeben von H. Ehrenbaum), »Revolution« (1913, herausgegeben von H. Leybold) und »Die weißen Blätter« (1914-21, herausgegeben von R. Schickele). Neben diesen Zeitschriften gab es eine Vielzahl kleinerer Publikationsorgane der zahlreichen Dichtergruppen, die sich in der Nachfolge des 1909 von K. Hiller in Berlin gegründeten »Neuen Clubs«, des »Neopathetischen Cabarets«, bildeten sowie (Lyrik-)Anthologien (»Der Kondor«, 1912, herausgegeben von K. Hiller; »Menschheitsdämmerung«, 1920, herausgegeben von K. Pinthus), in denen sich die expressionistische Revolution manifestierte. In diesem Sinne (»Aufstand gegen die Väter«) wurde der Vater-Sohn-Konflikt zum immer wieder gestalteten Thema der Zeit, in der Erzählung (F. Kafka, »Das Urteil«, 1913), im Drama (W. Hasenclever, »Der Sohn«, 1914), im Gedicht (J. R. Becher, »Oedipus«, 1916). Bis in den Ersten Weltkrieg hinein war der Expressionismus im Wesentlichen von der Lyrik geprägt; in der Anthologie »Der Kondor« wurde er zum ersten Mal programmatisch vorgestellt. Außer von F. Werfel erschienen Gedichtbände u. a. von G. Heym, G. Benn, G. Trakl, W. Hasenclever, A. Lichtenstein, A. Ehrenstein, E. Stadler, A. Stramm; zu den Lyrikern des Expressionismus zählen ferner T. Däubler, Y. Goll, Else Lasker-Schüler, R. Schickele, J. van Hoddis, E. Blass, P. Zech u. a. Während des Ersten Weltkriegs erreichte die erzählende Prosa mit der Publikationsfolge »Der jüngste Tag« ein größeres Publikum. Nach A. Ehrensteins Erzählung »Tubutsch« (1911), C. Einsteins Roman »Bebuquin oder Die Dilettanten des Wunders« (1912), A. Döblins Erzählungen »Die Ermordung einer Butterblume« (1913) und G. Heyms Novellen »Der Dieb« (herausgegeben 1913) erschienen Prosabände von F. Kafka, C. Sternheim, G. Benn, K. Edschmid, R. Schickele, M. Brod u. a. Die wesentliche Leistung in der zweiten Phase des Expressionismus (etwa seit 1915) war das Drama: Bedeutende Vertreter waren v. a. C. Sternheim, G. Kaiser, O. Kokoschka, W. Hasenclever, F. von Unruh, E. Barlach, E. Toller, Y. Goll und - über den Expressionismus hinausweisend - B. Brecht. Typisch für das Drama des Expressionismus ist die Auflösung in lose verknüpfte Bilderfolgen (Stationendrama). Ausgedehnte Monologe, lyrisch-hymnische Sequenzen sind ebenso kennzeichnend wie Gebärde, Tanz, Pantomime, das zeitlose Kostüm und das abstrakte Bühnenbild, schließlich eine neue Beleuchtungstechnik. Die Personen erscheinen weitgehend typisiert, überindividuell und zugleich als totale Ich-Projektion. - Typisch für die Sprache des Expressionismus ist zum einen der exstatisch gesteigerte Ausdruck und reiche Metaphorik, zum anderen Sachlichkeit und Zerstörung der traditionellen Bilder, des Weiteren Verknappung, Betonung des Rhythmus und damit eine neue Syntax.
 
Der Erste Weltkrieg war für den Expressionismus ein tiefer Einschnitt. Viele Exponenten kamen um, u. a. A. Lichtenstein, E. Stadler, G. Trakl, A. Stramm. An die Stelle einer ambivalenten Haltung trat zunehmend eine radikal pazifistische Haltung. Schließlich begann sich für einige Autoren die utopische Vorstellung von der Verbrüderung des neuen Menschen angesichts der russischen Oktoberrevolution 1917 zu konkretisieren (u. a. J. R. Becher). Nach 1921 verlor der Expressionismus seine Bedeutung. Die Gründe lagen in der Enttäuschung der politischen und sozialen Hoffnungen, im Verlust der Jugendimpulse, in einer Ernüchterung des Bewusstseins, die sich literarisch in der Wendung zu einer »Neuen Sachlichkeit« bekundete. (deutsche Literatur, Film, Theater)
 
Literatur:
 
Begriffsbestimmung des literar. E., hg. v. H. G. Rötzer (1976);
 W. Rothe: Der E. (1977);
 G. P. Knapp: Die Lit. des dt. E. (1979);
 R. Brinkmann: E. Internat. Forsch. zu einem internat. Phänomen (1980);
 P. Raabe: Die Zeitschriften u. Sammlungen des literar. E. (1964);
 
Index E., hg. v. P. Raabe: , 18 Bde. (Nendeln 1972);
 P. Raabe: Die Autoren u. Bücher des literar. E. (21992);
 
Theorie des E., hg. v. O. F. Best (Neuausg. 1982, Nachdr. 1994).
 
 3) Musik: eine im Anschluss an den Expressionismusbegriff der Malerei und Dichtung um 1918/19 aufgekommene Bezeichnung, die sich von vornherein v. a. auf die frühatonale Musik von A. Schönberg bezog (der diese Etikettierung selbst ablehnte), besonders etwa auf die George-Lieder Opus 15 (1908/09), die Klavierstücke Opus 11 (1909) und das Melodram »Pierrot lunaire« Opus 21 (1912). Daneben wurden auch die Schönberg-Schüler A. Webern mit seinen kurzen »Stücken« (ab 1909) und A. Berg (Oper »Wozzeck«, 1914-21), im weiteren Sinn auch Kompositionen von A. Skrjabin, F. Busoni, B. Bartók, I. Strawinsky, P. Hindemith, E. Křenek, F. Schreker u. a. zum musikalischen Expressionismus gezählt. Die inhaltlichen Bestimmungen dieser Benennung betonen begrifflich die Gegenüberstellung zum musikalischen Impressionismus (dessen Existenz bezweifelbar ist), sachlich die für die Entstehung der Neuen Musik entscheidende Hinwendung zur atonalen Musik mit all ihren Konsequenzen und kompositionsästhetisch die Berufung auf das Unbewusste, das Triebhafte des Schaffensprozesses, der seine Rechtfertigung in der Wahrheit des Instinkts findet und der durch eine musikalische »Expressionslogik« gekennzeichnet ist, obwohl in Wirklichkeit alle in diesem Sinne expressionistische Werke, v. a. die der Schönberg-Schule, zugleich ein Höchstmaß an kompositorischer Strukturiertheit aufweisen.
 
Literatur:
 
M. von Troschke: E., in: Hwb. der musikal. Terminologie, hg. v. H. H. Eggebrecht, Losebl. (1972 ff.; Lfg. 15, 1987).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Espressivo und Expressionismus
 
Expressionismus in der bildenden Kunst: Die Alten Wilden
 
Expressionismus in der Literatur: Aufschrei und Zeitdiagnose
 

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Ex|pres|si|o|nịs|mus, der; - [zu lat. expressio = Ausdruck, zu: exprimere = ausdrücken]: im Gegensatz zum Impressionismus stehende [Stil]richtung der Literatur, bildenden Kunst u. Musik (bes. im Anfang des 20. Jh.s), deren Grundzug der gesteigerte Ausdruck des Geistig-Seelischen ist: der literarische, musikalische E.; Auch im deutschen E. spielte das nass gemalte Aquarell ... wieder eine bedeutendere Rolle (Bild. Kunst III, 14).

Universal-Lexikon. 2012.