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Tieftemperaturphysik
Tief|tem|pe|ra|tur|phy|sik 〈f.; -; unz.〉 Gebiet der Physik, das sich mit der Erzeugung tiefster Temperaturen u. den dabei auftretenden Erscheinungen befasst

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Tieftemperaturphysik,
 
Spezialgebiet der Physik, das sich mit der Erzeugung und Messung sehr tiefer Temperaturen befasst, oft bezogen auf den Temperaturbereich unterhalb des Siedepunkts von flüssigem Sauerstoff (90 K) oder Stickstoff (77 K), sowie mit der Untersuchung von Materialeigenschaften und physikalischen Prozessen bei diesen tiefen Temperaturen. Die Technik zur Erzeugung tiefer Temperaturen verwendet bis etwa 1 K hinab die Gasverflüssigung. Die verflüssigten Gase, v. a. Stickstoff, Wasserstoff und Helium, werden in Kryostaten als Kühlmittel eingesetzt. Erniedrigt man den Dampfdruck über der Flüssigkeit, so nimmt die Temperatur noch weiter ab. Temperaturen unterhalb von 4,2 K lassen sich mit Helium durch Abpumpen des Dampfes über der Flüssigkeit erreichen, wobei dem System die Verdampfungswärme entzogen wird. Mit 4He, dem häufigsten Heliumisotop, können damit 0,8 K erreicht werden. Mit dem selteneren 3He, das einen höheren Dampfdruck als 4He besitzt, lassen sich 0,3 K als untere Grenztemperatur erreichen. - Mit dem 3He-4He-Entmischungsapparat (englisch dilution refrigerator) können kontinuierlich Temperaturen von 1 bis 2 mK erzeugt werden. Da die Isotope 3He und 4He unterhalb von 0,8 K nicht vollständig mischbar sind, kann man in diesem Temperaturbereich eine Grenzfläche zwischen fast reiner 3He-Flüssigkeit und einem Gemisch von flüssigem 4He mit circa 6 % 3He herstellen. Durch Absaugen des 3He aus dem Gemisch wird an der Grenzfläche der beiden Phasen 3He in das 4He hinein verdampft. Die dazu erforderliche Energie wird der 3He-Flüssigkeit entzogen, was zur Temperaturerniedrigung führt.
 
Vor der Entwicklung des Entmischungskryostaten wurde der Bereich von etwa 0,3 K bis 1 mK durch die adiabatische Entmagnetisierung erschlossen. Mit paramagnetischen Salzen (z. B. Kaliumchromalaun KCr(SO4)2 · 12 H2O) kann man in den Bereich von einigen mK abkühlen. Wendet man die adiabatische Entmagnetisierung auf die magnetischen Momente der Atomkerne an, z. B. des Kupfers, so erreicht man noch um etwa einen Faktor 1 000 niedrigere Temperaturen. Die tiefste Temperatur, auf die ein Stück Kupfer bisher (1992) abgekühlt wurde, beträgt 12 μK (12 · 10-6 K). Das System der Kernmomente selbst kann auf sehr viel kleinere Temperaturen im Nanokelvin (nK)-Bereich abgekühlt werden. Der Wärmeaustausch zwischen dem Kernmomentesystem und dem übrigen Festkörper ist bei diesen tiefen Temperaturen äußerst gering, sodass die Abkühlung der ganzen Probe sehr lange dauern kann.
 
Durch Laserkühlung können (seit etwa 1985) stark verdünnte Gase (Atomstrahlen) in sehr kurzen Zeiten (einige Millisekunden) auf Temperaturen im Mikrokelvinbereich und darunter gekühlt werden. Durch anschließende Verdampfungskühlung gelang (1995) der Nachweis der Bose-Einstein-Kondensation.
 
Für die Erzeugung und Aufrechterhaltung tiefer Temperaturen muss das Tieftemperaturgebiet extrem gut von der warmen Umgebung abgeschirmt werden. Das gelingt durch völlig geschlossene Metallschilde, die mit flüssigem Helium oder auch durch einen 3He-4He-Mischkryostaten gekühlt werden. Für Aufbewahrungsgefäße von flüssigen Gasen kann heute die Superisolation verwendet werden. Diese besteht aus vielen Lagen einer sehr dünnen, mit Aluminium bedampften Kunststofffolie, die in den Zwischenraum zwischen der warmen Außenwand und dem kalten Innengefäß gestopft werden.
 
Die Messung sehr niedriger Temperaturen erfolgt im Bereich der flüssigen Gase mit Gasthermometern, mit denen man über die Messung des Drucks (bei konstantem Volumen) die Temperatur bestimmen kann. Mit den Gasthermometern lassen sich die sehr viel einfacher zu benutzenden elektrischen Widerstandsthermometer eichen. Unterhalb von etwa 0,3 K verwendet man zur Temperaturmessung die Bestimmung der magnetischen Suszeptibilität der paramagnetischen Salze beziehungsweise der Kernmomente. Zur Eichung dieser Thermometer dient das »Rauschthermometer«; die statistischen Schwankungen (das Rauschen) der elektrischen Spannung an den Enden eines Widerstands ist eindeutig mit der absoluten Temperatur verknüpft.
 
In jedem Temperaturbereich treten charakteristische Phänomene auf, wenn die Energie der ungeordneten Wärmebewegung vergleichbar wird mit der Wechselwirkungsenergie, die zu einem Ordnungszustand führt. Im Bereich von 104 K bis 1 K werden die Umwandlungen gasförmig - flüssig - fest beobachtet. Im mK-Bereich treten die magnetischen Ordnungen in paramagnetischen Salzen auf und im μK-Bereich schließlich die Ordnungen in den Kernmomentesystemen. Mit der Supraleitung bestimmter Stoffe und der Suprafluidität von 4He und 3He wurden überraschende Tieftemperaturerscheinungen entdeckt, die auch technische Anwendungen gebracht haben (z. B. supraleitende Magnete). Daneben liefert die Tieftemperaturphysik die Grundlagen für alle Bereiche der Kryotechnik.
 
Geschichte:
 
Obwohl R. Pictet und L. Cailletet bereits 1877 Sauerstoff und Stickstoff, J. Dewar 1898 auch Wasserstoff verflüssigen konnten, setzte die eigentliche Tieftemperaturphysik und Tieftemperaturtechnik erst 1908 mit der Verflüssigung von Helium durch H. Kamerlingh Onnes in Leiden ein, wo allein auch die Weiterentwicklung für viele Jahre lag. Erst 1923 stand auch in Toronto und 1925 in Berlin (bei W. Meissner in der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt) flüssiges Helium zur Verfügung. W. F. Giauque gelang es 1933 in Berkeley (Calif.), mit dem von ihm und unabhängig von P. Debye vorgeschlagenen Verfahren der adiabatischen Entmagnetisierung 0,1 K zu erreichen. Wenig später erreichte W. J. de Haas in Leiden bereits 4 mK. Der Vorschlag, für das Vordringen zu noch tieferen Temperaturen Systeme von Kernmomenten adiabatisch zu entmagnetisieren, wurde von C. J. Gorter 1934 und von N. Kurti und F. E. Simon 1935 gemacht. Aber erst 1956 gelang es Kurti und seinen Mitarbeitern, das Kernmomentesystem von Kupfer durch Entmagnetisierung erfolgreich abzukühlen, wobei eine Temperatur im μK-Bereich erreicht wurde.
 
Literatur:
 
H. Hausen u. H. Linde: Tieftemperaturtechnik. Erzeugung sehr tiefer Temperaturen, Gasverflüssigung u. Zerlegung von Gasgemischen (21985);
 O. V. Lounasmaa: Experimental principles and methods below 1 K (Neudr. London 1988).

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Tief|tem|pe|ra|tur|phy|sik, die: Forschungsgebiet der Physik, auf dem die Untersuchungen der physikalischen Eigenschaften von Stoffen bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt durchgeführt werden.

Universal-Lexikon. 2012.