kulturẹlle Identität,
häufig gebrauchter, zugleich aber umstrittener Begriff, nach dem die Individuen und Gruppen über eine spezifische Art des Selbstbewusstseins verfügen, das sich aus ihrem Bezug auf die durch eine bestimmte Kultur repräsentierten Werte, Fähigkeiten oder Verhaltensmuster ergibt. Kulturelle Identität hat damit die Funktion, die eigene Person beziehungsweise das Gruppenbewusstsein zu stabilisieren oder hervorzuheben, indem die jeweils als kulturelle Eigenheiten angesehenen Muster und institutionell getragenen Vorgaben (Familie, Religion, Region, Sprache, Traditionen, Gruppenzugehörigkeit) tradiert, lebendig gehalten oder (erneut) in Geltung gesetzt werden.
Seine Bedeutung in sozialer und politischer Hinsicht gewinnt der Begriff nicht zuletzt daraus, dass darin zwei zentrale Emanzipationsbereiche des bürgerlichen Denkens seit der Aufklärung zusammengefasst werden: zum einen die auch den Menschenrechten zugrunde liegende Vorstellung, dass sich Personalität und Identität des Einzelnen aus seiner Unverwechselbarkeit mit anderen und damit aus seinem Recht auf Besonderheit bestimmen lassen (»so wie kein anderer«), zum anderen die bei Herder vorformulierte Auffassung, dass sich Kulturen - darin Individuen vergleichbar - auf jeweils besondere Art entwickeln und sich daraus in demselben Maße, in dem der einzelne Mensch Anspruch auf Gleichheit habe, auch ein Anspruch universaler Gleichstellung der Kulturen ableiten lasse. In diesem Sinne spielte der Anspruch auf kulturelle Gleichstellung und Schutz individueller kultureller Orientierungen schon in den Minderheiten- und Nationalitätenkonflikten der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Rolle.
Die heutige Diskussion um den Begriff der kulturellen Identität hat ihre Grundlage v. a. in den seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beobachtenden Bestrebungen von sozialen, ethnischen oder anderen Minderheiten, von marginalisierten Gruppen und einzelnen Menschen, angesichts einer als »dominant« empfundenen Kultur (z. B. des Lebensstils »westlicher« Industriegesellschaften) bestehende Benachteiligung oder Unterdrückung zu thematisieren beziehungsweise aufzuheben.
Allen Bezugnahmen auf kulturelle Identität ist dabei gemeinsam, dass sie im Wechselbezug zu anderen Problemstellungen (politische Benachteiligung, soziale Desintegration, ökonomische Ausbeutung) gesehen werden müssen. Sie reichen von der rückwärts gewandten »Erfindung kultureller Traditionen« (z. B. Aufhebung der industriegesellschaftlich geprägten kulturellen Muster; E. Hobsbawm) über emanzipatorische Ansätze (z. B. Schaffung eigener kultureller Zusammenhänge angesichts von Benachteiligung oder Diskriminierung; u. a. im Antirassismus oder Feminismus), bis hin zur Vorstellung, dass angesichts der gegenwärtigen Individualisierungs- und Umorientierungsprozesse zum Ende des Jahrtausends »plurale Identitäten« und divergente Kulturbegriffe den Inhalt einer universalen kulturellen Identität ausmachen könnten. Kritiker der Begriffsverwendung weisen v. a. auf die unzulässigen Verallgemeinerungen und falschen Homogenisierungstendenzen hin, die durch die Verkopplung von »Identität«, die nur personal gedacht werden könne, und »Kultur«, die stets auf Kollektive ziele und selbst Produkt eines Generalisierungsprozesses sei, entstünden und betonen auch die Gefahr eines fundamentalistischen Rückzugs aus der Gegenwart, statt sich den Herausforderungen und Chancen des modernen, zunehmend durch globale Vernetzung von Ökonomie und Kommunikation bestimmten Zeitalters zu stellen.
R. Linton: Gesellschaft, Kultur u. Individuum (a. d. Engl., 1974);
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Universal-Lexikon. 2012.