NATO-Doppelbeschluss und Stationierungsdebatte
1976/77 hatte die Sowjetunion begonnen, ihre auf Westeuropa gerichteten älteren Mittelstreckenraketen durch moderne Raketen vom Typ SS 20 mit jeweils drei Sprengköpfen zu ersetzen. Die deutsche Bundesregierung unter Helmut Schmidt hielt dies für eine Gefährdung des strategischen Gleichgewichts in Europa und eröffnete im NATO-Bündnis eine Diskussion über westliche Gegenmaßnahmen. Bei der US-Regierung, die dem Problem zunächst wenig Beachtung geschenkt hatte, wuchs nun das Interesse, die eigene strategische Position gegenüber der Sowjetunion durch die erstmalige Aufstellung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa zu verbessern. Der am 12. Dezember 1979 von den Außen- und Verteidigungsministern der NATO zur »Nachrüstung« gefasste Doppelbeschluss bestand aus zwei Elementen: 1. Stationierung bodengestützter atomarer Mittelstreckenwaffen (108 Pershing-II-Raketen und 464 Cruise-Missiles) in Europa Ende des Jahres 1983; 2. Angebot an die Sowjetunion zu Verhandlungen mit den USA über die Mittelstreckenwaffen in Europa; das Ergebnis dieser Verhandlungen sollte über die Durchführung einer Stationierung entscheiden.
Die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen begannen am 30. November 1981 in Genf. Unterdessen hatte in vielen Ländern der NATO eine breite Friedensbewegung begonnen, die Regierungen zur Aufgabe der Nachrüstung zu drängen. Auch innerhalb der SPD wuchs die Opposition gegen die Nachrüstung und verstärkte sich nach dem Bonner Regierungswechsel vom Herbst 1982 erheblich. Auf dem Kölner SPD-Parteitag vom November 1983 sprach sich dann eine überwältigende Mehrheit gegen die Raketenstationierung aus. CDU/CSU und FDP hielten demgegenüber am NATO-Doppelbeschluss fest. Die Bundesregierung hoffte auf einen Verhandlungserfolg in Genf, war aber im Falle des Scheiterns zur Stationierung der amerikanischen Raketen entschlossen, auch um den Zusammenhalt des westlichen Bündnisses zu sichern. Die Grünen, seit März 1983 im Bundestag, hatten von Anfang an die Friedensbewegung mitgetragen und bekämpften kompromisslos die Nachrüstung. Die Genfer Verhandlungen brachten keine Annäherung der amerikanischen und der sowjetischen Position. Ein Lösungsvorschlag, den die Verhandlungsführer beider Seiten auf einem Waldspaziergang skizziert hatten, wurde von den Regierungen in Washington und Moskau verworfen.
Der Deutsche Bundestag entschied sich am 22. November 1983 nach einer zweitägigen leidenschaftlichen Debatte mit der Mehrheit von CDU/CSU und FDP für die Raketenstationierung. Während schon am nächsten Tag die USA mit der Aufstellung von Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik begannen, brach die Sowjetunion die Genfer Verhandlungen ab. Die 1985 wiederaufgenommenen Verhandlungen führten zum weltweiten Abbau aller amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenraketen im 1987 abgeschlossenen INF-Vertrag.
Universal-Lexikon. 2012.