Festkörperchemie,
Teilgebiet der anorganischen und der physikalischen Chemie, das sich einerseits mit der Darstellung und Untersuchung fester Stoffe beschäftigt, deren chemische und physikalische Eigenschaften stark durch die periodische Anordnung der Bausteine in einem ausgedehnten Kristallgitter bestimmt werden, das sich andererseits mit den chemischen Reaktionen in der festen Phase sowie an deren Oberfläche befasst und die physikalischen Ursachen für diese Festkörperreaktionen zu erfassen sucht. Unter den Oberflächenreaktionen werden v. a. solche untersucht, die eine Rolle bei der chemischen Adsorption, bei der Korrosion und besonders bei der Katalyse spielen. Von den in festen Körpern ablaufenden chemischen Reaktionen interessieren neben den durch Bestrahlung mit elektromagnetischer Strahlung, energiereichen Teilchen und Ultraschall hervorgerufenen Reaktionen besonders solche, die auf Fehlordnungserscheinungen im Kristallgitter beruhen.
Der perfekte, fehlerfreie Kristall ist ein Idealzustand, der aus thermodynamischen Gründen nur am absoluten Nullpunkt stabil wäre. Bei höheren Temperaturen ist der stabilste Zustand mit der Existenz einer bestimmten Zahl von Defekten (Fehlstellen) im Kristallgitter (Fehlordnung, Gitterbaufehler) verknüpft. Damit stellt jeder reale Kristall eine nichtstöchiometrische Verbindung dar. Je nach Fehlordnungsgrad sind minimale Änderungen der Zusammensetzung realisierbar, durch die die chemischen und physikalischen Eigenschaften kontinuierlich variiert werden können. Diese Variationsmöglichkeiten werden z. B. bei der Dotierung von Halbleitern technisch angewendet. Defekte im Kristallgitter sind darüber hinaus die Voraussetzung für die Festkörperreaktionen in der festen Phase, weil sie zur Gleichgewichtseinstellung notwendige Platzwechselvorgänge ermöglichen.
Die Entwicklung der Festkörperchemie wurde durch die vielen technischen Anwendungsmöglichkeiten von Festkörpern (Halbleiter, Hartstoffe, Hochtemperaturstoffe, Opto- und Elektrokeramik, Supraleiter, Superionenleiter u. a.) gefördert. Durch die Entwicklung neuer Präparationsverfahren (v. a. der Kristallzüchtung und Epitaxie) und -anlagen (z. B. Hochdruck-, Hochtemperatur-, Hochvakuumanlagen) sowie die Verbesserung und Erweiterung der Untersuchungsmethoden (Messung optischer, elektrischer oder magnetischer Eigenschaften, Röntgenstrukturanalyse, Untersuchungen von Transportreaktionen) ist die Festkörperchemie in der Lage, die Aufbauprinzipien fester Stoffe sowie die Abhängigkeit ihrer Eigenschaften von der Kristallstruktur systematisch zu analysieren, wobei auch solche Festkörper in die Untersuchung einbezogen werden können, die nur in geringen Mengen oder als winzige Einkristalle herstellbar sind oder deren Handhabung problematisch ist, weil sie luftempfindlich, explosiv oder bei Raumtemperatur flüssig sind. So ist auch das Verständnis der chemischen Bindung erheblich vertieft worden. Es konnte gezeigt werden, dass fast alle Elemente homonukleare Element-Element-Bindungen bilden können, die im Falle des Kohlenstoffs für die Vielfalt der Kohlenstoffverbindungen in der organischen Chemie verantwortlich sind. Das Auftreten von Gruppen gleichartiger Atome (Clustern), die auch zu sehr großen Struktureinheiten polymerisiert sein können, führt zu Verbindungen ungewöhnlicher Zusammensetzung. So sind z. B. in den metallreichen Verbindungen, die auch anwendungstechnisch von Bedeutung sind (etwa Alkalimetallsuboxide als Photokathoden oder Molybdänclusterverbindungen als Supraleiter mit sehr hoher kritischer Feldstärke), so viele Metallatome untereinander verknüpft, dass Bereiche mit Metallgitterstruktur im Gesamtaufbau vorliegen. Die Darstellung und Erforschung amorpher Festkörper, die als Halbleiter (z. B. epitaktisch abgeschiedenes amorphes Silicium für Solarzellen) oder metallische Gläser Anwendung finden, gewinnt an Bedeutung, ebenso die von Festkörpern mit starker Ionenleitung (Superionenleiter), die für die direkte Umwandlung von chemischer Energie in elektrische Energie in Festkörperbatterien interessant sind.
W. J. Moore: Der feste Zustand (a. d. Amerikan., 1977);
A. R. West: Grundlagen der F. (a. d. Engl., 1992).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Universal-Lexikon. 2012.