Kiewer Reich
Mit der Vereinigung der warägischen Herrschaften um Nowgorod und im Dnjeprgebiet unter dem Nachfolger Ruriks, Oleg (879-912), entstand das Kiewer Reich, wobei Kiew nun zur neuen Residenzstadt wurde (882). In der Folgezeit gelang es Oleg, die benachbarten ostslawischen Stämme seiner Herrschaft zu unterwerfen und sich aus der Abhängigkeit des Turkvolkes der Chasaren, die das Wolgagebiet beherrschten, zu lösen. Nach einem Vorstoß auf Byzanz 907 sah sich Kaiser Leon VI. genötigt, mit Oleg einen Handelsvertrag abzuschließen, der den Kiewer Kaufleuten in gewissem Umfange Handelsfreiheit in Konstantinopel gewährte. Dieser Vertrag wurde 944/45 im Wesentlichen erneuert, nachdem die Kiewer, die nun allgemein »Rus« genannt wurden, unter dem Nachfolger Olegs, dem Fürsten Igor, vergeblich versucht hatten, Konstantinopel zu erobern (941).
Konsolidierung im Innern und hohes Ansehen nach außen verdankte das neue Reich vor allem einer Frau: der Witwe Igors, Olga, die nach dessen Tode die Regierung während der Minderjährigkeit ihres Sohnes Swjatoslaw und dann während dessen Kriegszügen führte (945-57) und die entscheidende Grundlage für die Christianisierung des Landes schuf, indem sie sich selbst taufen ließ (vermutlich in Konstantinopel) und byzantinische Missionare ins Land rief. Aus Furcht, durch einen zu engen Anschluss an die byzantinische Kirche auch in politische Abhängigkeit zu geraten, suchte Olga die Verbindung zur Kirche des Ottonenreiches, wobei allerdings die von hier ausgehenden Missionsversuche scheiterten (962), da mit der Machtübernahme Swjatoslaws in Kiew eine heidnische Reaktion einsetzte.
Fürst Sjwatoslaw (962-72) versuchte, seine Herrschaft durch zahlreiche Kriegszüge auszudehnen, in deren Verlauf es ihm gelang, das Chasarenreich wie auch das Reich der Wolgabulgaren zu vernichten (965/66). Zunächst im Bündnis mit Byzanz besetzte er das Bulgarenreich des Zaren Peter (968/69), wandte sich dann aber gegen das Byzantinische Kaiserreich selbst. Hier musste er jedoch eine schwere Niederlage einstecken, die ihn zwang, Bulgarien zu räumen (971). Im Kampf gegen die Petschenegen, die in das Dnjeprgebiet eingefallen waren, fand Swjatoslaw im folgenden Frühjahr den Tod.
Sein Sohn Wladimir konnte sich erst 980 endgültig gegenüber seinen Brüdern als Alleinherrscher durchsetzen. Da er entschlossen war, sich einer der großen Religionsgemeinschaften zuzuwenden, empfing er Abgesandte der Moslems, der westlichen und östlichen Christen sowie der Juden. Die Entscheidung zugunsten des byzantinischen Christentums wurde durch die Ehe mit der byzantinischen Prinzessin Anna erleichtert. Als Wladimir sich 988/89 taufen ließ, folgten ihm die Oberschicht und die Mehrheit der Bevölkerung ohne Widerstand auf diesem Weg.
Aus Byzanz übernahmen die Russen die altslawische Liturgie, das slawische Alphabet und auch byzantinisches Recht, sodass es zu einem ersten kulturellen Aufschwung kam, der sich unter Wladimirs Sohn und Nachfolger Jaroslaw (1019-54) zu einer glanzvollen Blütezeit steigerte, in der bedeutsame Werke in der Literatur und Geschichtsschreibung sowie im Bereich der Rechtsetzung hervorgebracht wurden.
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Kiewer Reich,
Universal-Lexikon. 2012.