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Parthenonfries
Parthenonfries
 
Athen hatte in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. den Höhepunkt seiner Macht erreicht. Das vormalige Zentrum des ionischen Griechentums, das Apollonheiligtum von Delos, hatte seinen Rang an Athen abtreten müssen. Unter diesem Eindruck haben die Athener innerhalb der erstaunlich kurzen Zeitspanne von nur vier Jahrzehnten ihrem Hauptheiligtum auf der Akropolis durch großartige Neubauten ein völlig verändertes Aussehen gegeben. Jedes dieser Bauwerke war in seiner Art ohne unmittelbare Vorbilder. Das gilt auch für den »Parthenon«, den großen Tempel, den die Athener ihrer Stadtgöttin Athena zum Geschenk machten. Nach außen hin hat er das vertraute Aussehen eines dorischen Tempels, wie er auf dem griechischen Festland allerorten zu sehen war. Doch umschließt diese Säulenhalle einen Kernbau, der mit vielen planerischen Überraschungen aufwartet. Besonders bemerkenswert ist die Anbringung eines figürlichen Frieses an der Mauerkrone. Die Anregung dazu erhielten die Architekten von den Sakralbauten auf den Kykladeninseln.
 
Der Fries erstreckt sich über alle vier Seiten des Kernbaus. Bei dessen Abmessungen von etwa 60x20 m ergibt sich für den Fries eine Gesamtlänge von 160 m. Die Höhe des Frieses beträgt 1,06 m. Wie für den gesamten Tempel ist auch für den Fries der lokale attische Marmor aus den Brüchen des nahe gelegenen Pentilikon verwendet worden. In dem Friesband sind 360 Menschen- und Götterfiguren dargestellt sowie weit mehr als 200 Pferde, Rinder, Schafe und Wagen. Immer wieder fällt im Zusammenhang mit dem Parthenonfries der Name des großen athenischen Bildhauers Phidias. Nach einer antiken Überlieferung hatte er die künstlerische Leitung über das große Bauprogramm auf der Akropolis. Die Ausarbeitung eines so umfangreichen Auftrags überstieg aber natürlich bei weitem die Leistungskraft eines einzelnen Mannes, mag die Zahl seiner persönlichen Mitarbeiter auch noch so groß gewesen sein. Starke Unterschiede in der Qualität und vielfältige Unterschiede in der stilistischen Ausführung sprechen für ein Mitwirken von mehr als 50 Ateliers.
 
Es hat sich als müßig erwiesen, herausfinden zu wollen, welcher Teil des Frieses von der Hand des Phidias stammen mag und welche anderen illustren Meister in diesen Großauftrag einbezogen waren. Entscheidend für das Gelingen dieses einzigartigen Kunstwerkes ist etwas ganz anderes: das fruchtbare Zusammenspiel von Politikern, Architekten, Ingenieuren und Künstlern, die ihrer Vision eines lebensvollen Staatswesens ein bleibendes Monument setzten.
 
So ist denn auch die Wahl des Themas für den Fries am Parthenon das wirklich außerordentliche an diesem Kunstwerk. Die Handlung nimmt Bezug auf die große Prozession anlässlich des Hauptfestes der Stadt, das waren die »Panathenäen«. Ziel des Festzuges war der Altar der Athena Polias. An ihrem uralten Kultmal wurde der Göttin das Opfer dargebracht, das den rituellen Höhepunkt des Festes darstellte. Doch nicht der feierliche Vorbeimarsch des Festzuges ist im Bilde festgehalten. Eingefangen ist vielmehr die vibrierende Atmosphäre am Morgen des Festtages. Eine ganze Stadt ist in Erwartung der bevorstehenden Festfreuden. Die Betrachtung der Szenen des Frieses gleicht einem Gang durch die Stadt, an deren Plätzen sich überall die Teilnehmer der Prozession versammeln und auf das festliche Ereignis vorbereiten.
 
Die an der westlichen Schmalseite angebrachten Friesplatten führen uns zu den Jünglingen, die sich dem Zug als Reiterei einreihen werden. Einige haben bereits paarweise Aufstellung genommen, während andere noch mit der Einkleidung befasst sind. Lebensnah wird die Mühe geschildert, sich unruhig aufbäumende Pferde in den geordneten Wartestand zurückzuführen. An beiden Langseiten setzen sich die Szenen mit berittenen Jünglingen fort. Immer wieder sind Festordner zwischen den Pferdeleibern zu erkennen. Eine andere Abteilung des Zuges besteht aus Wagengespannen, denen jeweils zwei Jünglinge zugeordnet sind. Sie werden im weiteren Verlauf des Festes das Apobatenrennen austragen. Dabei galt es, vom fahrenden Viergespann abzuspringen, um es anschließend in kühnem Sprung wieder zu erklimmen.
 
Breiten Raum nehmen die auserwählten Mädchen und Jünglinge ein, denen die Auszeichnung zuteil wurde, die Opfertiere zu geleiten und alle weiteren für die Kulthandlungen benötigten Gerätschaften im Festzug befördern zu dürfen. Auch hier werden die menschlichen Schwächen nicht verschwiegen: das Scheitern der Begleiter, die Rinder im Festtrubel im Zaume zu halten, die Erschöpfung der jungen Männer unter der schweren Last der gefüllten Krüge.
 
An der östlichen Schmalseite, über dem Zugang zum Tempelinneren haben sich jene Wesen eingefunden, denen zu Ehren das Fest begangen wird: die Götter und die mythischen Vorfahren der Athener, die als Heroen verehrten Stammespatrone (»Phylenheroen«). Selbst in dieser Sphäre ist nichts zu spüren von steifer Feierlichkeit. Statt dessen herrscht auch hier erwartungsfrohe Entspanntheit. Die olympischen Götter sitzen gruppenweise beisammen, einige unterhalten sich, andere blicken hinab zu den Bürgern Athens, die sich bald dem Altar nähern werden, um im Vollzug des Opfers den Göttern den ihnen zustehenden Anteil des Festmahls zu senden.
 
Wir würden die betont heitere Stimmung über der gesamten Darstellung kaum verstehen, besäßen wir nicht ein Dokument aus jener Zeit, das sich wie eine Begründung für die Wahl dieses eigenwilligen Themas ausnimmt. In einer Rede, die Perikles, der Initiator des Baus, kurz nach Vollendung des Parthenon im Winter des Jahres 431/30 v. Chr. hielt, beschreibt er, was Athen vor allen anderen griechischen Städten auszeichnet: niemand leiste im Alltagsleben so Vieles und so Großartiges wie die Athener. Niemand habe daher auch das Recht, die Erfolge des gottgefälligen Lebens so intensiv zu genießen wie die Bürger dieser Stadt. Festesfreude sei ein unverwechselbares Kennzeichen Athens.
 
Prof. Dr. Ulrich Sinn
 
Literatur:
 
Travlos, John: Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen. Tübingen 1971.

Universal-Lexikon. 2012.