Rathenau,
1) Emil, Unternehmer, * Berlin 11. 12. 1838, ✝ ebenda 20. 6. 1915, Vater von 2); erkannte früh die Bedeutung der Elektrotechnik, erwarb die Patente T. A. Edisons und gründete 1883 die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität, aus der 1887 die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) hervorging, die er mit O. von Miller leitete. 1884 errichtete Rathenau die Berliner Elektrizitätswerke, 1903 zusammen mit W. von Siemens die Telefunken Gesellschaft für drahtlose Telegraphie m. b. H.
2) Walther, Industrieller und Politiker, * Berlin 29. 9. 1867, ✝ (ermordet) ebenda 24. 6. 1922, Sohn von 1); war 1892-99 Direktor der Elektrochemischen Werke Bitterfeld, ab 1899 Vorstandsmitglied der AEG und ab 1915 Aufsichtsratsvorsitzender sowie 1902-07 Geschäftsinhaber der »Berliner Handelsgesellschaft«. 1914 regte er die Gründung einer Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium an, deren Aufbau er bis 1915 leitete. Obwohl er die allgemeine Kriegsbegeisterung in Europa nicht teilte und noch 1917 ein Befürworter eines Verständigungsfriedens war, forderte er kurz vor der Novemberrevolution 1918 einen »Volkskrieg« zur Abwendung der drohenden militärischen Niederlage.
Rathenau bemühte sich nach dem Sturz der Monarchie vergeblich um die Schaffung einer bürgerlichen Sammlungspartei; er trat dann der DDP bei. Nachdem Rathenau 1919 im vorläufigen Reichswirtschaftsrat und bei den Vorbereitungen zur Versailler Friedenskonferenz tätig geworden war, wurde er 1920 Mitglied der zweiten Sozialisierungskommission. 1920 nahm er als wirtschaftspolitischer Sachverständiger an der Konferenz in Spa und 1921 an der Vorbereitung der Londoner Konferenz teil. Als Wiederaufbau-Minister schloss er am 7. 10. 1921 mit Frankreich das Wiesbadener Abkommen über deutsche Sachlieferungen im Zusammenhang mit den Reparationsverpflichtungen ab. Im Rahmen seines von nationalistischer und antisemitischer Propaganda als »Erfüllungspolitik« heftig bekämpften politischen Konzepts, Deutschland nach dem Leitgedanken »einen Kontinent wiederherstellen« dauerhaft und kooperativ im Kreis der europäischen Demokratien zu verankern, vertrat Rathenau Deutschland 1922 auf der Konferenz von Cannes, wo er ein Teilmoratorium für deutsche Reparationen erreichte. Ab 1. 2. 1922 Reichsaußenminister, wurde Rathenau v. a. durch den Abschluss des Rapallovertrags bekannt, mit dem er den Osten Europas mit dem Westen zu verbinden suchte. Er fiel dem Attentat zweier Offiziere der rechtsextremen »Organisation Consul« zum Opfer. - Als sozial- und kulturphilosophischer Schriftsteller einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit, wies er, vor 1912 v. a. in M. Hardens Zeitschrift »Die Zukunft«, auf die Gefahren der Mechanisierung und des materialistischen Denkens der Menschen hin. Bemüht, liberal-individuelle und sozialistische Elemente miteinander zu verbinden, entwarf er die Utopie einer Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, um die Arbeiter aus ihrer längst unzeitgemäßen »Erbknechtschaft« zu befreien (u. a. »Zur Kritik der Zeit«, 1912; »Die neue Gesellschaft«, 1919).
Ausgaben: Gesammelte Reden (1924); Gesammelte Schriften, 6 Bände (Neuausgabe 1929); Politische Briefe (1929); Briefe, 3 Bände (Neuausgabe 1930); Schriften und Reden, herausgegeben von H. W. Richter (1964); Tagebuch 1907-1922, herausgegeben von H. Pogge-von Strandmann (1967); Gesamtausgabe, herausgegeben von H. D. Hellige und E. Schulin, auf mehrere Bände berechnet (1977 folgende).
P. Berglar: W. R. Ein Leben zw. Philosophie u. Politik (1987);
H. Graf Kessler: Ges. Schr., hg. v. C. Blasberg u. a., Bd. 3: W. R. Sein Leben u. sein Werk (Neuausg. 1988);
»Ein Mann vieler Eigenschaften« - W. R. u. die Kultur der Moderne, Beitr. v. T. P. Hughes u. a. (1990);
E. Schulin: W. R. Repräsentant, Kritiker u. Opfer seiner Zeit (21992);
Die Extreme berühren sich. W. R. 1867-1922, hg. v. H. Wilderotter, Ausst.-Kat. Dt. Histor. Museum, Berlin (1993);
H. F. Loeffler: W. R. - ein Europäer im Kaiserreich (1997).
Universal-Lexikon. 2012.