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Angestelltengewerkschaften
Angestelltengewerkschaften,
 
Organisationen, die die wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Angestellten und ihre berufliche Fortbildung vertreten. Es entwickelten sich zwei Arten von Verbänden: 1) die Angestelltengewerkschaften, die von der gemeinsamen Interessenlage der Arbeitnehmer ausgehen; 2) die Angestelltengewerkschaften, die ein eigenes Standesbewusstsein und damit eine eigenständige Interessenvertretung behaupten.
 
Die Angestelltengewerkschaften entstanden seit den 1890er Jahren (»Deutschnationaler Handlungsgehilfenverband«, 1893; »Zentralverband der Handlungsgehilfen«, 1897) neben den Arbeitergewerkschaften. Wie diese waren sie bis 1933 weltanschaulich und konfessionell gespalten.
 
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es drei Spitzenverbände der Angestelltengewerkschaften: 1) den »Allgemeinen freien Angestelltenbund« (Afa-Bund), der den sozialdemokratischen Gewerkschaften nahe stand und mit diesen 1923 einen Organisationsvertrag abschloss; 2) den »Gesamtverband deutscher Angestellten-Gewerkschaften« (Gedag) mit der stärksten Angestelltengewerkschaft, dem »Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband«; 3) den »Gewerkschaftsbund der Angestellten« (GdA), der mit den »Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen« den »Gewerkschaftsring deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände« bildete.
 
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 wurden auch die Angestelltengewerkschaften verboten oder gingen in der Deutschen Arbeitsfront auf. Zahlreiche Vertreter der Angestelltengewerkschaften leisteten gegen die nationalsozialistische Herrschaft Widerstand.
 
Bei der Neugründung der Gewerkschaften nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich 1945/49 das Organisationsprinzip des Industrieverbandes durch, indem sowohl die organisatorische Trennung in drei Säulen (Arbeiter, Angestellte, Beamte) als auch eine Differenzierung nach Berufsgruppen zugunsten des Prinzips: »ein Betrieb, eine Gewerkschaft« aufgegeben wurde. Nicht alle Angestellten unterstützten dieses Prinzip. Am 1. 7. 1945 wurde in Hamburg die »Deutsche Angestellten-Gewerkschaft« (DAG) als unabhängige Gewerkschaft gegründet. Bis 1948 gehörte sie dem Deutschen Gewerkschaftsbund in der Britischen Besatzungszone (DGB/BBZ) an. Weniger ideologische Differenzen, sondern mehr der Kampf um Mitglieder sowie bürokratische Eigeninteressen führender DAG-Funktionäre und von Gewerkschaftsfunktionären einflussreicher Industriegewerkschaften hatten 1948 das Ausscheiden der DAG aus dem DGB/BBZ zur Folge. Differenzen zwischen dem DGB und der DAG lagen unterschiedliche Auffassungen über eine wirkungsvolle Interessenvertretung der Angestellten zugrunde. Während in der Vergangenheit Versuche einer organisatorischen Annäherung scheiterten, führten verschiedene Faktoren in den letzten Jahren zu einer Annäherung und punktuellen Zusammenarbeit zwischen DAG und einzelnen DGB-Gewerkschaften. Im Ergebnis dieser Bemühungen kam es im März 2001 zum Beitritt der DAG in die neu gegründete Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di).
 
Außer im DGB sind Angestellte auch im »Deutschen Handels- und Industrieangestellten-Verband« (DHV; 1950 gegründet als Deutscher Handlungsgehilfenverband) organisiert, der dem »Christlichen Gewerkschaftsbund Deutschlands« (christliche Gewerkschaften) angegliedert ist. 1950 schlossen sich die Verbände der leitenden Angestellten zur »Union der leitenden Angestellten« (ULA) zusammen.
 
Das Industrieverbandsprinzip, unter Einbeziehung der Angestellten, bildet keineswegs das vorherrschende Organisationsmuster in Industriegesellschaften. Gegen dauerhafte Traditionen, bestehende Differenzen in der Ausbildung und bei den Arbeitsbedingungen sowie nach Abgrenzung verlangenden Statusbedürfnissen war es nur unter besonderen Bedingungen - wie der Neugründung der Gewerkschaften in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg - durchsetzbar. Bereits die Reorganisation der Gewerkschaften in Österreich 1945 weist mit der Gründung des »Österreichischen Gewerkschaftsbundes« (ÖGB) auf ein anderes Muster; zwar wurde auch hier das Industrieverbandsprinzip angestrebt, das jedoch mit der Bildung der »Gewerkschaft der Privatangestellten«, inzwischen die mitgliederstärkste Gewerkschaft des ÖGB, durchbrochen wurde. In der Schweiz war bereits 1918 die »Vereinigung Schweizerischer Angestelltenverbände« (VSA) und 1903 der »Föderativverband des Personals öffentlicher Verwaltungen und Betriebe« (FV) als Koordinationsgremium von Verbänden im Bereich der öffentlichen Dienste entstanden.
 
International sind die freigewerkschaftlichen Angestelltengewerkschaften (beziehungsweise Angestelltengruppen) im 1920/21 gegründeten »Internationaler Bund der Privatangestellten« (IBP, seit 1967 meist als FIET [Fédération Internationale des Employés, Techniciens et Cadres] bezeichnet) organisiert, der als Folge des industriegesellschaftlichen Strukturwandels mit über 11 Mio. Mitgliedern (400 Verbände in 115 Ländern) inzwischen zu einem der mitgliederstärksten internationalen Berufssekretariate geworden ist. Die christlichen Angestelltenverbände sind meist Mitglieder des »Weltbundes der Angestelltengewerkschaften«, der Fachinternationale des Weltverbandes der Arbeitnehmer.
 
Literatur:
 
G. Hartfiel: Angestellte u. A. in Dtl. (1961);
 I. Hamel: Völk. Verband u. nat. Gewerkschaft (1967);
 U. Kadritzke: Angestellte, die geduldigen Arbeiter (1975);
 R. Dittmar: Die Dt. A. (1978);
 E. Fehrmann u. U. Metzner: Angestellte u. Gewerkschaften (1981);
 
Die österr. Angestellten u. ihre Gewerkschaft, hg. v. der Gewerkschaft der Privatangestellten (Wien 1982);
 
Quellen zur Gesch. der dt. Gewerkschaftsbewegung im 20. Jh., begr. v. E. Matthias, hg. v. K. Schönhoven u. a., Bd. 8: Die Gewerkschaften u. die Angestelltenfrage: 1945-1949 (1989);
 
Angestellte u. Gewerkschaften. Neue Trends u. neue Antworten, hg. v. U. Schumm-Garling (21991);
 M. König: Die Angestellten unterwegs. Vom Berufsstand zur modernen Gewerkschaft 1890-1990 (1991).

Universal-Lexikon. 2012.