Schwer|ionenforschung,
Forschungszweig, der sich mit der Erzeugung, Beschleunigung und Wirkung ein- oder mehrfach ionisierter Atome mit Massenzahlen größer als vier befasst. Neben der reinen Grundlagenforschung (Schwerionenphysik) beschäftigt sich die Schwerionenforschung auch mit anwendungsorientierten Problemen.
Mit Schwerionenbeschleunigern können Ionen aller chemischer Elemente bis zum Uran auf sehr hohe Geschwindigkeiten gebracht und als Projektilsonden auf die Atome der Zielmaterie (Targets) geschossen werden. - Die Energie der beschleunigten Ionen reicht aus, um selbst beim Stoß Uran auf Uran die durch die hohen Kernladungen bewirkte starke Coulomb-Abstoßung zu überwinden. Wählt man eine genügend niedrige Energie, so nähern sich zwei schwere Kerne beim Stoß nur, ohne sich zu berühren. Durch die abstoßenden Coulomb-Felder können die Kerne in Rotation versetzt, deformiert und sogar gespalten werden (Coulomb-Spaltung; Kernspaltung). Beim Vorbeiflug eines schweren Ions an einem Atomkern ist auch die kurzzeitige Bildung von superschweren Quasiatomen und -molekülen beobachtet worden. Wird die Energie so weit erhöht, dass sich die Kerne berühren, wirken anziehende kurzreichweitige Kernkräfte zwischen den Nukleonen, die den abstoßenden Coulomb-Kräften zwischen den geladenen Protonen entgegenwirken. Dabei können kurzzeitig Kernmoleküle gebildet und Kernbestandteile ausgetauscht werden.
Im Mittelpunkt der Schwerionenforschung stehen Grundlagenuntersuchungen der Kern- und Atomphysik, wie Untersuchungen zur Kernstruktur sowie von heißer, komprimierter und hochangeregter Kernmaterie. Zentrum der Schwerionenforschung in Deutschland ist die Gesellschaft für Schwerionenforschung mbH (GSI) in Darmstadt. Die im Schwerionenstoß mögliche Verschmelzung von Kernen hat zur Erzeugung superschwerer Elemente geführt; bei der GSI wurden (1981-96) die chemischen Elemente 107 bis 112 eindeutig nachgewiesen. Es wurde weiterhin eine neue Art des radioaktiven Zerfalls beobachtet, bei dem sich Atomkerne durch Aussendung von Protonen in Kerne mit einer um eins erniedrigten Ordnungszahl umwandeln (Protonenabstrahlung). - Durch das Schwerionensynchrotron SIS am GSI können die Ionen auf bis zu 90 % der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt werden; zusammen mit dem Experimentierspeicherring ESR wurden die experimentellen Möglichkeiten der Atomphysik wesentlich erweitert: Praktisch jedes Element kann inzwischen mit jedem Ionisationsgrad in einem weiten Geschwindigkeitsbereich zur Verfügung gestellt werden; die Elektronenhüllen lassen sich bis zu den schwersten Atomen vollständig abstreifen. Mit diesen hochgeladenen schweren Ionen kann die Quantenelektrodynamik auch im Gebiet extrem hoher elektrischer und magnetischer Felder überprüft werden. - Bei kernphysikalischen Experimenten wurden am SIS die doppelt magischen Kerne (magische Zahlen) Zinn 100 und Nickel 78 erzeugt. Durch Kernzusammenstöße bei SIS-Energien werden zahlreiche Erscheinungsformen der Kernmaterie (wie mehrfach komprimierte Kernmaterie gegenüber dem »flüssigen« Normalzustand, freies Nukleonengas) untersucht. Bei Kernstößen mit noch höheren Geschwindigkeiten beziehungsweise Energien sucht man am CERN nach der Bildung des Quark-Gluon-Plasmas. Diese Untersuchungen sind auch für die Astrophysik von großem Interesse, da ähnliche Dichten u. a. Zusammenhänge z. B. bei der Elementsynthese in den Sternen, bei Supernovaexplosionen oder in Neutronensternen eine Rolle spielen.
Zu den Anwendungsmöglichkeiten von Schwerionenstrahlen gehören neben den Grundlagenuntersuchungen in Kern-und Atomphysik insbesondere die Materialforschung, die Plasmaphysik und die Biophysik. Für die Mikrostrukturierung von Bedeutung sind z. B. die Schwerionenlithographie zur Herstellung integrierter Schaltungen mit extrem kleinen Abmessungen (bis hinab zu etwa 0,1 μm) oder die Herstellung von Feinstfiltern durch Beschuss von Kunststoff-, Glas- oder Glimmerfolien und Herausätzen der von den hindurchgehenden schweren Ionen geschädigten Zonen zu durchgehenden Kanälen von 0,02 bis 20 μm. - In der Strahlenbehandlung bildet die radiobiologische Wirkung von Ionenstrahlen die Grundlage der Tumorbestrahlung. - Aufgrund der sehr effektiven Deposition von Energie in Materie lassen sich mit Schwerionenstrahlen Plasmen hoher Dichte und Temperatur erzeugen. Diese Forschungen stellen wichtige Grundlagenarbeiten für eine zukünftige großtechnische Energiegewinnung aus thermonuklearen Fusionsreaktionen nach dem Prinzip der Trägheitsfusion dar (Kernfusion).
Universal-Lexikon. 2012.