Rä|te|sys|tem, das (Politik):
Rätedemokratie.
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Rätesystem,
eine Herrschaftsform, die auf Verwirklichung der direkten Demokratie (Herrschaftsausübung »von unten nach oben«) mithilfe von gewählten Räten zielt. Vollversammlungen der Urwähler auf der Ebene von Wohn- und Betriebseinheiten wählen örtliche Räte, die in einem System indirekter Delegierung über Bezirks- und Regionalräte einen Zentralrat auf staatlicher Ebene wählen. Die Räte, die auf jeder Ebene die uneingeschränkte gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt haben, tagen im Hinblick auf eine ständige Kontrolle durch die Wählerschaft öffentlich und bedienen sich zwecks Durchführung ihrer Beschlüsse auf jeder Entscheidungsebene jederzeit abrufbarer Vollzugsräte (Exekutivräte, Volkskommissariate). Die Räte sind ihrerseits an die Aufträge ihrer Wähler gebunden (imperatives Mandat); jedes Mitglied kann jederzeit durch den entsendenden Wahlkörper seines Mandates entbunden (Recall) und ersetzt (Rotationsprinzip) werden. - Unter Verzicht auf Gewaltenteilung möchte das Rätesystem das Entstehen von Oligarchien und die Verselbstständigung staatlicher Bürokratien verhindern. Die Existenz von Parteien und Interessenverbänden als zwischengeschaltete Mittler im politischen Willensbildungsprozess ist unvereinbar mit der Räteidee. Den Räten im staatlichen Bereich entsprechen solche in Betrieben, Schulen oder Armee.
Vorläufer des Rätegedankens waren die Räte im Heer O. Cromwells. Im 19. Jahrhundert entwickelten die Frühsozialisten (P. J. Proudhon) und die Anarchisten (M. A. Bakunin) die Räteidee im heutigen Sinne. Entscheidend prägten jedoch K. Marx (»Der Bürgerkrieg in Frankreich«, 1871) und Lenin (»Staat und Revolution«, 1917) mit ihrer Deutung der Pariser Kommune von 1871 die modernen Erscheinungsformen des Rätegedankens. Seit 1890 spielte dieser im französischen, später auch im spanischen Syndikalismus eine bedeutende Rolle. In Deutschland verfocht v. a. Rosa Luxemburg den Gedanken, den revolutionären sozialistischen Staat auf der Basis des Rätesystems aufzubauen. In der russischen Revolution von 1905 formierten sich revolutionäre Selbstverwaltungsorgane in Gestalt spontan gebildeter »Sowjets« (»Räte«). Mit seiner Forderung »Alle Macht den Sowjets!« suchte Lenin nach der Februarrevolution 1917 das Rätesystem als revolutionäre Herrschaftsform in Russland durchzusetzen. Nach der Oktoberrevolution 1917 wurden die Räteideen zur Grundlage des bolschewistischen Verfassungssystems, aber in ihrem Grundanliegen durch die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei infrage gestellt. Während der Novemberrevolution 1918 bildeten sich in Deutschland Arbeiter-und-Soldaten-Räte; 1919 bestanden kurzlebige Räterepubliken (Bayern, Ungarn). Eine bedeutsame Rolle spielte der Rätegedanke auch im Spanischen Bürgerkrieg. Neu belebt wurde die Räteidee in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die neue Linke.
W. Gottschalch: Parlamentarismus u. Rätedemokratie (1968);
G. A. Ritter: »Direkte Demokratie« u. Rätewesen in Gesch. u. Theorie, in: Die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft, hg. v. E. K. Scheuch (21968);
Theorie u. Praxis der direkten Demokratie. Texte u. Materialien zur Räte-Diskussion, hg. v. U. Bermbach (1973);
P. Kevenhörster: Das R. als Instrument zur Kontrolle polit. u. wirtschaftl. Macht (1974);
H. Dähn: Rätedemokrat. Modelle. Studien zur Rätediskussion in Dtl. 1918-1919 (1975);
E. Kolb: Die Arbeiterräte in der dt. Innenpolitik: 1918-1919 (Neuausg. 1978).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Oktoberrevolution: Alle Macht den Räten!
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Rä|te|sys|tem, das: vgl. ↑Rätedemokratie.
Universal-Lexikon. 2012.