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neue Linke
neue Linke,
 
von C. W. Mills geprägte Bezeichnung für sozialistische, v. a. marxistische Gruppen, die besonders während der 1960er-Jahre in den hoch industrialisierten Demokratien Europas und Nordamerikas auftraten. Getragen von Studenten und Intellektuellen, artikulierte sie sich in zahlreichen Protestbewegungen. In ihrer Zielsetzung suchte sie sich von der politischen Praxis und den theoretischen Konzeptionen der »alten Linken«, besonders den sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien, abzuheben und neue revolutionäre Strategien im Kampf gegen die »kapitalistische Konsumgesellschaft« zu entwickeln.
 
Die verschiedenen Strömungen der neuen Linken fußten auf unterschiedlichen Theorien; sie verarbeiteten neomarxistische Gedanken (H. Marcuse, T. W. Adorno, J. Habermas und M. Horkheimer) wie revolutionäre Theorien aus Entwicklungsländern (F. Castro Ruz, E. »Che« Guevara Serna, Mao Zedong). Auch anarchistisches Gedankengut (M. Bakunin) fand zunehmend Beachtung. Der neuen Linken gelang es jedoch nicht, eine geschlossene theoretische Formulierung ihrer Ziele zu entwickeln. Gemeinsam ist allen Strömungen eine radikale Kritik an der marktwirtschaftlich konzipierten industriellen Welt: Scheinfreiheit der Lohnabhängigen, Leistungszwang, durch Werbung und Bedarfsweckung gesteuerter Konsumzwang, Warencharakter alles Kulturellen und Stützung eines besonders am Konsum orientierten Bewusstseins z. B. durch die Massenmedien. Damit werde der Mensch seiner sozialen Fähigkeiten beraubt und einer »totalen Repression« unterworfen. Hintergrund dieser scharfen Gesellschaftskritik war die Krise um die Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit der politischen Systeme in den USA und im westlichen Europa. Hier schien sich entgegen den demokratischen Ansprüchen eine Machtelite (Establishment) aus Großindustrie, Politik und Militär herausgebildet zu haben, die die Masse der Bevölkerung in manipulierter Abhängigkeit hielt. Demgegenüber postulierte die neue Linke im Rückgriff auf radikaldemokratische Forderungen die Demokratisierung der Gesellschaft und die Beseitigung von Leistungs- und Konsumzwang.
 
Im Gegensatz zur traditionellen marxistischen Theorie verfochten zahlreiche Vertreter der neuen Linken die Idee, dass die Arbeiterklasse nicht mehr primär das Subjekt der Revolution sein könne, da sie in die moderne Komsumgesellschaft bereits weitgehend integriert sei. Die Revolutionierung der Konsumgesellschaft könne nur von »Außenseitern«, d. h. sozialen »Randgruppen«, herbeigeführt werden. Mit besonderen Demonstrationstechniken (Sit-in, Go-in, Teach-in) sollten diese Gruppen die kapitalistische Gesellschaft verunsichern. Gleichzeitig sollte durch ein begrenztes Durchbrechen der bestehenden Rechtsordnung der staatlichen Machtapparat, besonders Polizei und Justiz, zu massiven Gegenmaßnahmen herausgefordert werden, um die »Gewalt des Systems« offen zu legen.
 
In den USA entwickelte sich innerhalb der liberalen Bürgerrechtsbewegung gegen die Rassentrennung eine studentische Linke (Ausgangspunkt: Universität Berkeley, Calif.); sie verband angesichts des »anderen Amerika«, d. h. der weit verbreiteten Armut inmitten einer Überflussgesellschaft, den Protest gegen Rassendiskriminierung und das militärische Engagement der USA in Vietnam mit einer Kampfansage gegen die bestehende Gesellschaft allgemein. Diese Protestbewegung griff auf Europa, besonders die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich, über. Unter Führung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) suchte eine von der Freien Universität in Berlin (West) ausgehende außerparlamentarische Opposition eine antiautoritäre Reformbewegung in Gang zu setzen. Sie nahm das amerikanische Engagement in Vietnam, die überkommene Struktur des deutschen Bildungssystems und die geplante Notstandsgesetzgebung zum Anlass ihrer Demonstrationen (Höhepunkt: 1967/68; Studentenbewegung). Im Mai 1968 lösten Studentenunruhen in Paris eine Staatskrise in Frankreich aus (Frankreich, Geschichte).
 
Seit etwa 1969/70 verlor die neue Linke ihre organisatorischen Konturen; viele ihrer Vertreter fanden sich in meist maoistisch orientierten Parteien (z. B. in den K-Gruppen) zusammen, zahlreiche andere suchten bei den Jungsozialisten in der SPD oder in den Gewerkschaften eine neue politische Plattform. Eine Minderheit organisierte sich in terroristischen Vereinigungen (z. B. in der Rote-Armee-Fraktion). Die Kritik der neuen Linken an der Konsumgesellschaft beeinflusste in den 1970er-Jahren die programmatische Entwicklung der Grünen.
 
Literatur:
 
J. Habermas: Protestbewegung u. Hochschulreform (31970);
 
Die N. L., hg. v. P. Pulte (1973);
 A. von Weiss: Schlagwörter der n. L. (1974);
 K. Sontheimer: Das Elend unserer Intellektuellen. Linke Theorie in der Bundesrep. Dtl. (1976);
 H. Marcuse: Das Ende der Utopie (1980);
 G. Langguth: Protestbewegung - Entwicklung, Niedergang, Renaissance. Die n. L. seit 1968 (1983).

Universal-Lexikon. 2012.