Bergsọn,
Henri, französischer Philosoph, * Paris 18. 10. 1859, ✝ ebenda 4. 1. 1941; war seit 1900 Professor am Collège de France in Paris, seit 1914 Mitglied der Académie française; erhielt 1928 (für 1927) den Nobelpreis für Literatur. Als Schüler von É. Boutroux und J. Lachelier war Bergson einer der Hauptvertreter der Lebensphilosophie, der in der Entwicklungslinie des von Maine de Biran ausgehenden französischen Voluntarismus und Spiritualismus stand. Bergson wandte sich gegen die materialistisch-mechanistische Welt- und Wissenschaftsauffassung und kritisierte die evolutionären Theorien C. Darwins und H. Spencers. Er deutete die gesamte Wirklichkeit aus der metaphysischen Einheit des Lebens, dessen schöpferische Grundkraft (»élan vital«) im Ringen mit dem Stofflichen immer neue Schöpfungen hervorbringe. Diese ewige, freie schöpferische Entwicklung (»évolution créatrice«) wird als Widerstand gegen die dem Leben selbst innewohnende Tendenz der Erstarrung gesehen, deren Endpunkt die Materie ist. Die Ganzheit dieser dem Bewusstsein in ihrer Einmaligkeit gegebenen Wirklichkeit erschließt sich nur der philosophischen Intuition, während der analytische Verstand lediglich als Instrument des Lebens zur technischen Beherrschung der Natur gilt. Die typische Form der Zeitlichkeit des Lebensprozesses ist nicht die objektiv-physikalische Zeit (»temps«), sondern die reale Erlebniszeit, die wirkliche, unmittelbar erfahrene Dauer (»durée«). Diese wird nach Bergson durch das Gedächtnis möglich, worin die Vergangenheit aufbewahrt ist. Auf der Grundlage dieses Systems entwarf Bergson eine neue intuitive Erkenntnistheorie, Psychologie, Naturphilosophie, Ethik und Religionsphilosophie. Besonders Wissenschaftskritik und Intuitionslehre wurden von seinen Nachfolgern M. Blondel, Édouard Le Roy (* 1870, ✝ 1954), R. Le Senne, Louis Lavelle (* 1883, ✝ 1951) u. a. aufgegriffen (Bergsonismus). - Bergsons Einfluss auf die europäische Philosophie erstreckt sich über die Lebensphilosophie (in Deutschland besonders bei G. Simmel) hinaus v. a. auf die Existenzphilosophie sowie auch auf die Literatur (u. a. M. Proust).
Werke: Essai sur les données immédiates de la conscience (1889; deutsch Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen); Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l'esprit (1896; deutsch Materie und Gedächtnis); Le rire. Essai sur la signification du comique (1900; deutsch Das Lachen); Introduction à la métaphysique (1903; deutsch Einführung in die Metaphysik); L'évolution créatrice (1907; deutsch Schöpferische Entwicklung); L'énergie spirituelle (1919; deutsch Die seelische Energie); Durée et simultanéité. À propos de la théorie de Einstein (1922); Les deux sources de la morale et de la religion (1932; deutsch Die beiden Quellen der Moral und der Religion); La pensée et le mouvant (1934; deutsch Denken und schöpferisches Werden).
Ausgaben: Œuvres, herausgegeben von E. Gouthier und A. Robinet (1959); Mélanges, herausgegeben von A. Robinet (1972).
M. Austermann: Die Entwicklung der eth. u. religionsphilosoph. Gedanken bei H. B. (1981);
L. Kołakowski: H. B. Ein Dichterphilosoph (a. d. Engl., 1985);
H. Hude: H. B., 2 Bde. (Paris 1989-90);
J.-L. Vieillard-Baron: H. B. (Paris 1991).
Universal-Lexikon. 2012.