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Poincaré
Poincaré
 
[pwɛ̃ka're],
 
 1) Jules Henri, französischer Mathematiker, Physiker und Philosoph, * Nancy 29. 4. 1854, ✝ Paris 17. 7. 1912, Vetter von 2); promovierte nach Studium in Paris mit einer bahnbrechenden Arbeit über partielle Differenzialgleichungen, 1879 Professor für Analysis in Caen, 1881 Professor an der Sorbonne in Paris. Bereits 1887 Mitglied der Académie des sciences, wurde er 1909 auch in die Académie française aufgenommen. - Die frühen mathematischen Arbeiten Poincarés galten v. a. den automorphen Funktionen; 1881 entdeckte Poincaré ein Modell für die hyperbolische (nichteuklidische) Geometrie (die »poincarésche Halbebene«). Zum Studium gewöhnlicher und partieller Differenzialgleichungen benutzte Poincaré als Erster qualitative Methoden (1880-83), wodurch er zum Wegbereiter moderner Theorien, wie etwa der topologischen Dynamik, wurde. In zahlreichen Arbeiten (1892-1904) zur »Analysis situs«, wie Poincaré die Topologie noch nannte, begründete er die algebraische Topologie. Man verdankt ihm v. a. die Definition der Fundamentalgruppe, die simplizialen Komplexe, den Dualitätssatz und die Poincaré-Vermutung. - Auf dem Gebiet der Himmelsmechanik kam Poincaré im Zusammenhang mit dem Dreikörperproblem zu wichtigen Erkenntnissen, die er in dem Werk »Les méthodes nouvelles de la mécanique céleste« (3 Bände, 1892-99) darlegte. - Bereits 1904 forderte Poincaré, dass alle Naturgesetze unter Lorentz-Transformationen (deren Gruppeneigenschaften er 1905 erkannte) invariant sein müssten. Damit nahm er einen zentralen Gedanken (Relativitätsprinzip) der speziellen Relativitätstheorie von A. Einstein (1905) vorweg.
 
Poincaré hat sich in einer großen Zahl von Aufsätzen zu philosophischen und wissenschaftstheoretischen Problemen sowie zu didaktischen und Grundlagenfragen der Mathematik geäußert. Dabei ist Poincaré als Begründer des Konventionalismus (der bei ihm auf die Geometrie beschränkt blieb) bekannt geblieben. In der Philosophie der Mathematik bekämpfte er den Logizismus. Ausführliche Untersuchungen widmete Poincaré den Dimensionen des Raumes, für die er im Anschluss an H. von Helmholtz eine sinnesphysiologische Lösung anbot.
 
Ausgabe: Œuvres, herausgegeben von P. Apell, 11 Bände (1950-65; teilweise Neuausgabe).
 
Literatur:
 
The mathematical heritage of H. P., hg. v. F. E. Browder, 2 Bde. (Providence, R. I., 1983);
 G. Heinzmann: Entre intuition et analyse. P. et le concept de prédicativité (Paris 1985);
 H. P. Science et philosophie, hg. v. J. L. Greffe u. a. (Berlin 1996).
 
 2) Raymond, französischer Politiker, * Bar-le-Duc 20. 8. 1860, ✝ Paris 15. 10. 1934, Vetter von 1); Rechtsanwalt, 1887-1903 progressiv-republikanischer Abgeordneter, 1895-98 Vizepräsident der Kammer, ab 1903 Senator; 1893 und 1895 Unterrichts-, 1894 und 1906 Finanzminister. Angesichts der militärischen Stärke Deutschlands überzeugt, dass nur eine starke Allianz Sicherheit biete, pflegte Poincaré als Ministerpräsident und Außenminister (1912-13) intensiv die französisch-britischen und französisch-russischen Beziehungen, unterstützte Russland auf dem Balkan, suchte Armee und Marine zu stärken (Einführung der dreijährigen Dienstpflicht) und war gegenüber Deutschland kompromisslos. Als Präsident (1913-20) bemühte er sich während des Ersten Weltkrieges um eine »Union sacrée« aller Parteien zur Verteidigung der Republik und plädierte für eine Annexion des Rheinlandes und der Saar; Februar bis Mai 1920 Vorsitzender der Reparationskommission, trat für die extensive Auslegung des Versailler Vertrages ein. 1922 provozierte er den Sturz von Ministerpräsidenten A. Briand, dessen konziliante Haltung gegenüber Deutschland er ablehnte. 1922-24 erneut Ministerpräsident und Außenminister, verweigerte Poincaré jedes Zugeständnis in der Reparations- und Abrüstungsfrage, ließ im Januar 1923 wegen des Verzuges der deutschen Lieferungen das Ruhrgebiet besetzen und unterstützte den rheinischen Separatismus. Poincarés Erwartungen, aus einer Position der Stärke mit Großbritannien und den USA eine definitive Regelung des Reparations- und Schuldenproblems im Interesse Frankreichs zu treffen, wurden jedoch nicht erfüllt (Dawesplan). Nach dem Wahlsieg des »Linkskartells« trat Poincaré am 1. 6. 1924 zurück, wurde 1926, gestützt auf das Parteienbündnis der »Union nationale«, wiederum Ministerpräsident und zugleich Finanzminister; es gelang ihm, die französische Finanzkrise durch Stabilisierung des Franc zu bewältigen. Am 27. 7. 1929 zog er sich aus Gesundheitsgründen aus der aktiven Politik zurück.
 
Werke: Messages. .., 3 Bände (1919-21; deutsche Ausgewählte Reden 1914-19); Histoire politique, chroniques de quinzaine, 4 Bände (1920-22); La victoire et la paix (1921); Au service de la France, 10 Bände (1926-33, Band 11 herausgegeben 1974; deutsch Memoiren).
 
Literatur:
 
G. Wormser: Le septennat de P. (Paris 1977);
 P. Miquel: P. (Neuausg. ebd. 1984);
 J. F. V. Keiger: P. R. (Cambridge 1997).

Universal-Lexikon. 2012.