Vergil
[v-], selten Virgil, eigentlich Pụblius Vergilius Maro, römischer Dichter, * Andes (heute Pietole, bei Mantua) 15. 10. 70 v. Chr., ✝ Brundisium (heute Brindisi) 21. 9. 19 v. Chr. Aus bäuerlichem Milieu stammend, kam Vergil zwischen 55 und 50 nach Rom, wo er dem Kreis der Neoteriker nahe stand und sich mit Rhetorik, Medizin und Astronomie beschäftigte. In Neapel setzte er sich mit der epikureischen Philosophie auseinander; erst später ließ er andere philosophische Systeme, besonders das stoische, auf sich wirken. Spätestens seit 42 v. Chr. hatte Vergil u. a. Verbindungen zu Asinius Pollio, Cornelius Gallus und Varius Rufus. Dieser führte ihn in den Kreis des Maecenas ein. Die späteren Lebensjahre verbrachte Vergil zurückgezogen, v. a. in Neapel. Er starb auf der Rückkehr von einer Reise nach Griechenland. Seine Gebeine wurden nach Neapel überführt, wo sein Grab lange beinahe kultische Verehrung genoss. Die »Aeneis«, der die letzte Ausfeilung noch fehlte, ließ Augustus gegen den Wunsch des sterbenden Dichters durch Varius Rufus herausgeben.
Vergils Jugendgedichte, das heißt einzelne Stücke der Sammlung »Catalepton« (etwa »fein ausgearbeitete Kleinigkeiten«), sind von der neoterischen Dichtung (besonders Catull) beeinflusst. Die seit J. J. Scaliger als »Appendix Vergiliana« bezeichneten Gedichte, unter denen sich Meisterwerke wie das »Moretum« (»Das Kräutergericht«) und die »Copa« (»Die Schankwirtin«) befinden, stammen - obwohl unter Vergils Namen überliefert - nicht von ihm, sondern von unbekannten zeitgenössischen oder späteren Autoren. Mit den zehn Hirtengedichten »Bucolica« (auch »Eclogae« genannt, entstanden etwa zwischen 42 und 39 v. Chr.) knüpfte Vergil an die Idyllen Theokrits an. Die Wirkung dieser Gedichte, die eine harmonische, wirklichkeitsferne Welt malen, war sofort außerordentlich. In der christlichen Welt genoss die vierte Ekloge besonderen Ruhm, da man sie als eine prophetische Ankündigung des Heilands auffasste.
Es folgten die »Georgica« (Gedichte vom Landbau), ein Lehrgedicht in vier Büchern. Wohl zwischen 39 und 29 v. Chr. entstanden, ist es Hesiod, der didaktischen Poesie des Hellenismus und Lukrez verpflichtet, es behandelt die Feldbestellung (Buch I), die Zucht der Obstbäume und Reben (II), die Viehzucht (III) und die Bienenzucht (IV). Das Werk zielt nicht auf eine Belehrung des Landmanns, sondern wendet sich mit höchstem Kunstanspruch an die oberen, gebildeten Schichten Roms, um bei diesen die Liebe zum Land und die Achtung vor der mühevollen, aber friedlichen und naturverbundenen Arbeit des Bauern zu erwecken.
Die »Aeneis« (begonnen 29 v. Chr.), das große Epos von den Ursprüngen Roms, schildert das Schicksal des Äneas, der nach dem Fall Trojas mit seiner Schar nach wechselvollen Schicksalen die neue Heimat Latium findet, die ihm die Götter bestimmt haben (Buch I-VI). In schweren Kämpfen mit den Italikern erringt er den Sieg (VII-XII). Die Vereinigung von Trojanern und Latinern, von Kultur und Stärke, schafft die Voraussetzung für die Entstehung des Volks der Römer. Die »Aeneis« knüpft in Inhalt und Gestaltung an Homer an; sie vereinigt in sich alle Elemente des mythologischen und des historischen Epos; darüber hinaus unternimmt sie eine Deutung der weltgeschichtlichen und sittlichen Sendung Roms, gesehen aus der Perspektive der augusteischen Ordnung, in der Vergil die Vollendung der Geschichte sah.
Vergil galt von der römischen Kaiserzeit bis zum Barock als höchster Maßstab für Dichtung überhaupt. Die Epik des 1. Jahrhunderts n. Chr. (Lukan, Publius Papinius Statius u. a.) entfaltete sich in ständiger Auseinandersetzung mit der »Aeneis«. Die Spätantike schuf mit ihren Handschriften und Kommentaren (u. a. Donatus, Maurus Servius Honoratus, 4. Jahrhundert n. Chr.) die Grundlage der späteren Wirkung. Den heidnischen Autoren galt Vergil als universale Quelle des Wissens, als Inbegriff der eigenen kulturellen Tradition (Macrobius); die christlichen Dichter (Juvencus, Prudentius, Avitus, Venantius Fortunatus u. a.) bedienten sich v. a. seiner Formensprache, als sie die biblische und hagiographische Dichtung begründeten. Die volkstümliche Überlieferung des Mittelalters machte Vergil zum Zauberer, um den sich allerlei Wundererzählungen rankten. Die literarische (lateinische und volkssprachliche) Vergil-Rezeption erlebte in karolingischer Zeit, im Hoch- und Spätmittelalter (Dante) und während der italienischen Renaissance (T. Tasso) ihre Höhepunkte.
Während sich die romanische Welt ein weitgehend ungebrochenes Verhältnis zu Vergil bewahrte, entdeckten in Deutschland die Dichter des Sturm und Drang Homer neu und bewunderten nun ihn als Ursprung aller Dichtung. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert bemüht sich die Forschung um ein neues Vergil-Verständnis.
Ausgaben: Catalepton, herausgegeben von R. E. H. Westendorp Boerma, 2 Bände (1949-63); Georgica, herausgegeben von W. Richter (1957); Vitae Vergilianae antiquae, herausgegeben von C. Hardie (Neuausgabe 1967); Opera. .., herausgegeben von R. A. B. Mynors (Neuausgabe 1972); Georgica. Georgics, herausgegeben von demselben (1990); Opera, herausgegeben von M. Geymonat (1973); Eneide, herausgegeben von E. Paratore, 6 Bände (1978-83); Appendix Vergiliana, herausgegeben von W. V. Clausen u. a. (51987).
Gedichte, herausgegeben von T. Ladewig und anderen, 3 Bände (9-131904-15, Nachdruck 1973); Eclogues, herausgegeben von R. Coleman (Neuausgabe 1981); Landleben. Bucolica, Georgica, Catalepton, herausgegeben von J. Götte u. a. (51987, lateinisch und deutsch); Aeneis, herausgegeben von demselben u. a. (71988, lateinisch und deutsch).
H. Merguet: Lex. zu Vergilius (1912, Nachdr. 1969);
T. Haecker: V., Vater des Abendlandes (71952);
J. Perret: Virgile (Neuausg. Paris 1967);
Wege zu V., hg. v. H. Oppermann (21976);
V. Pöschl: Die Dichtkunst Virgils (31977);
G. N. Knauer: Die Aeneis u. Homer (21979);
Aufstieg u. Niedergang der Röm. Welt, hg. v. H. Temporini u. a., Tl. 2, Bd. 31/1 (1980);
2000 Jahre V., hg. v. V. Pöschl (1983);
Enciclopedia Virgiliana, hg. v. D. della Corte, 6 Tle. (Rom 1984-91);
P. Grimal: V. (a. d. Frz., Zürich 1987);
M. Giebel: V. (13.-15. Tsd. 1994);
E. Norden: P. Vergilius Maro, Aeneis, Buch VI (91995);
L. Rumpf: Extremus labor. V.s 10. Ekloge u. die Poetik der Bucolica (1996).
Universal-Lexikon. 2012.