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Volksbücher
Volksbücher,
 
von J. Görres in Anlehnung an J. G. Herders Volksliedbegriff eingeführte Sammelbezeichnung für erzählende, aber auch erbauliche und lehrhafte Prosaschriften des 15./16. Jahrhunderts, die in der Folgezeit durch große Auflagen weite Verbreitung fanden und bis in das 19. Jahrhundert hinein bearbeitet beziehungsweise neu aufgelegt wurden. Die romantische Vorstellung von den Volksbüchern als Schöpfungen des anonym wirkenden »Volksgeistes« trifft aus mehreren Gründen nicht zu: Die (gebildeten) Verfasser sind oft namentlich bekannt (z. B. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken; Pfalzgraf Johann II., Pfalzgraf von Pfalz-Simmern, * 1492, ✝ 1557; J. Hartlieb; Thüring von Ringoltingen; Veit Warbeck, * 1490, ✝ 1534; J. Wickram), auch sind die meisten Werke nicht deutschen Ursprungs, sondern Übersetzungen französischer, lateinischer oder italienischer Vorlagen; darüber hinaus war das Publikum weniger das »Volk«, sondern, wie die aufwendige Ausstattung der Bücher bis zum Ende des 16. Jahrhunderts dokumentiert, die adelige und bürgerliche Oberschicht. Von der Herkunft, den Vorlagen und den Stoffkreisen her umfassen die Volksbücher - abgesehen von dem von Görres dazugerechneten Lehr- und Erbauungsschrifttum - so unterschiedliche Formen wie Prosaauflösungen mittelhochdeutscher Versromane (»Tristan und Isolde«, erstmals gedruckt 1484; »Wigoleis«, 1493; »Herzog Ernst«, 1493), Übersetzungen französischer, zum Teil schon in Prosa bearbeiteter höfischer Romane und Chansons de Geste (z. B. von Elisabeth von Nassau-Saarbrücken »Herpin«, gedruckt 1514, »Loher und Maller«, gedruckt 1513, »Hug Schapler«, gedruckt 1500; die anonymen Dichtungen »Olivier und Artus«, 1521; »Kaiser Octavianus«, 1535; »Valentin und Orso«, 1521; von Thüring von Ringoltingen »Melusine«, 1474; von Johann II. von Pfalz-Simmern »Fierrabras«, 1533, »Die Haimonskinder«, gedruckt 1535; von Veit Warbeck »Magelone«, gedruckt 1535), italienische Renaissancenovellen (z. B. »Griseldis«, 1471), antike Stoffe (z. B. von Hartlieb »Alexander«, gedruckt 1473), orientalische Erzählungen (z. B. »Die sieben weisen Meister«, 1470), Heiligenlegenden (z. B. »Sankt Brandans Seefahrt«, gedruckt um 1476), Tiergeschichten (»Reynke de vos«, 1498, erster hochdeutscher Druck 1544) und Schwankzyklen (P. Frankfurter »Der Pfaffe vom Kahlenberg«, gedruckt 1473; »Neidhart Fuchs«, 1491; H. Bote »Eulenspiegel«, 1511/12). Später kamen als romanhafte Zusammenfassungen mündlich tradierter Geschichten die »Historia von D. Johann Fausten. ..« (1587) und das »Lalebuch« (1597) sowie dessen Bearbeitung, »Die Schildbürger« (1598), hinzu; eine erste Sammlung beliebter Unterhaltungsromane stellt S. Feyerabends »Buch der Liebe« (1578 oder 1587) dar. Trotz gewisser inhaltlicher und formal-stilistischer Gemeinsamkeiten kann aber nicht von einer eigenen literarischen Gattung »Volksbücher« gesprochen werden, sondern eher von einer buchkundlichen beziehungsweise literatursoziologischen Kategorie, deren Einheit durch Aufmachung, Auflage, Vertrieb und Publikum hergestellt wird. Unter dem funktionalen Aspekt der »Unterhaltungslektüre für breite Schichten« könnten im weiteren Sinn auch Werke in der Nachfolge von J. J. C. von Grimmelshausens »Simplicissimus« (1669), Robinsonaden, Ritter-, Räuber- und Schauerromane des 17.-19. Jahrhunderts sowie die Heftromane der Gegenwart (Trivialliteratur) zu den Volksbüchern gezählt werden. Der traditionelle Vertrieb solcher Drucke auf Jahrmärkten hat sich in Portugal und Lateinamerika (besonders Brasilien) bis ins 20. Jahrhundert erhalten (»literatura de cordel«). - In Deutschland versuchten, nach der Wiederentdeckung der Volksbücher in der Romantik, Christoph von Schmid, K. Simrock, G. Schwab, Gotthard Oswald Marbach (* 1810, ✝ 1890) und Herbert Kranz (* 1891, ✝ 1973) die Volksbücher als Unterhaltungs- und Jugendlektüre wieder zu beleben. In der germanistischen Forschung verengte sich das von Görres weiter gefasste Volksbücherkonzept auf erzählende Prosatexte, ungeachtet der Tatsache, dass zahlreiche Stoffe durch gereimte oder dramatische Bearbeitungen (z. B. durch H. Sachs) eine größere Popularität erlangten; heute werden diese Texte als »Prosaromane der frühen Neuzeit« bezeichnet, und es wird versucht, den Begriff »Volksbücher« unter funktionalem Aspekt neu zu definieren.
 
Ausgaben: Die deutschen Volksbücher, herausgegeben von K. Simrock, 13 Bände (1892, Nachdruck 1974, 7 Bände); Die deutschen Volksbücher, herausgegeben von R. Benz, 6 Bände (1911-24); Romanische Volksbücher, herausgegeben von F. Karlinger u. a. (1978); Deutsche Volksbücher, herausgegeben von P. Suchsland, 3 Bände (41982); Die deutschen Volksbücher. Wiedererzählt von G. Schwab, 3 Bände (Neuausgabe 1985).
 
Literatur:
 
J. Görres: Die teutschen V. (1807, Nachdr. 1982);
 P. Heitz u. F. Ritter: Versuch einer Zusammenstellung der dt. V. des 15. u. 16. Jh. (Straßburg 1924);
 L. Mackensen: Die dt. V. (1927);
 H. Melzer: Trivialisierungstendenzen im V. (1972);
 H. J. Kreutzer: Der Mythos vom V. (1977);
 
Wunderseltsame Geschichten. Interpretationen zu Schildbürgern u. Lalebuch, hg. v. W. Wunderlich (1983);
 B. Gotzkowsky: V. Prosaromane, Versdichtungen u. Schwankbücher. Bibliogr. der dt. Drucke, 2 Bde. (1991-94).
 

Universal-Lexikon. 2012.