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ziviler Ungehorsam
ziviler Ungehorsam,
 
englisch civil disobedience ['sɪvɪl dɪsə'biːdjəns], zentraler Begriff einer besonders von der amerikanischen Bürgerrechts- und Friedensbewegung entwickelten Lehre, die auf den Ideen H. D. Thoreaus fußt und an die Vorstellungen M. K. Gandhis über den gewaltfreien Widerstand gegen ungerechte Gesetze und ungerechte Politik anknüpft.
 
In den USA und anderen angelsächsischen Ländern konzeptionell vorgeformt, gelangte diese Lehre in die demokratisch strukturierten Staaten des westlichen Europa, wo ziviler Ungehorsam als Ausdruck von Zivilcourage und »Bürgermut« (G. Heinemann) mit dem Ziel der Bewahrung oder Verwirklichung der normativen Grundlagen des Staates (besonders der Menschenrechte) und wesentlichen Staatszielbestimmungen gilt. Das schließt aus, dass mit zivilem Ungehorsam gesellschaftliche oder individuelle Partikularinteressen verfolgt werden können.
 
Gemäß der u. a. von J. Rawls entwickelten Lehre vom zivilen Ungehorsam (»A theory of justice«, 1971; deutsch »Eine Theorie der Gerechtigkeit«) ist dieser eine Form des Widerstands im Rechtsstaat (Widerstandsrecht). Das Problem des zivilen Ungehorsams entstehe nur in einem mehr oder weniger gerechten Staat für die Bürger, die die Verfassung anerkennen. Das Problem bestehe in einem Pflichtenkonflikt, der auf die Frage zulaufe, an welchem Punkt die Pflicht, sich den von einer Gesetzgebungsmehrheit beschlossenen Gesetzen (oder den von ihr unterstützten Handlungen der ausführenden Gewalt) zu fügen, angesichts des Rechts zur Verteidigung seiner Freiheiten und der Pflicht zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit nicht mehr bindend sei. In diesem Sinne ist der zivile Ungehorsam zu definieren als eine öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte, aber politisch gesetzwidrige Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll. Es ist nicht erforderlich, dass das gleiche Gesetz gebrochen werden müsse, gegen das protestiert werden soll. In jedem Fall ist der zivile Ungehorsam etwas Gesetzwidriges, und doch drückt sich die (prinzipielle) Gesetzestreue im öffentlichen und gewaltlosen Charakter der Handlung aus, in der Bereitschaft, die gesetzlichen Folgen der Handlungsweise auf sich zu nehmen. Danach ist der zivile Ungehorsam also rechtswidrig und kann nur moralisch legitimiert werden.
 
Die Betätigung zivilen Ungehorsams wird von einem Teil der Kritiker als Aufkündigung des Verfassungskonsenses verworfen. Aber auch weniger kritische Stimmen verweisen darauf, dass im Rechtsstaat zumeist genügende Behelfe (besonders Klagemöglichkeiten) zur Verfügung stehen, um sich gegen ungerechte Akte der Staatsgewalt zu wehren. Wo diese nicht zum Ziel führen, bleiben immer noch legale Mittel des Protestes, des Widerspruchs, der Kritik, um bestehendem oder drohendem Unrecht zu begegnen.
 
Literatur:
 
G. Radbruch: Gesetzl. Unrecht u. übergesetzl. Recht, in: Süddt. Juristenzeitung, Jg. 1 (1946);
 R. Dreier: Widerstandsrecht im Rechtsstaat. Bemerkungen zum z. U., in: Recht u. Staat im sozialen Wandel, hg. v. N. Achterberg u. a. (1983);
 T. Laker: Z. U. Gesch. - Begriff - Rechtfertigung (1986);
 H.-J. Benedict: Z. U. als christl. Tugend (1989);
 
Z. U. im Rechtsstaat, hg. v. P. Glotz (21989);
 A. Kaufmann: Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit. Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum z. U. im modernen Rechtsstaat (1991);
 K. Remele: Z. U. Eine Unters. aus der Sicht christl. Sozialethik (1992);
 C. Roxin: Strafrechtl. Bemerkungen zum z. U., in: Festschr. für Horst Schüler-Springorum zum 65. Geburtstag, hg. v. P.-A. Albrecht u. a. (1993);
 E. Schnieder: Z. U. in der angloamerikan. Rechtswiss. (1993).

Universal-Lexikon. 2012.