Hellenisierung des Christentums
Kaum war es entstanden, wurde das Christentum mit der hellenistischen Welt des Römischen Reiches konfrontiert. Vielleicht schon im Todesjahr Jesu schlossen sich - noch in Jerusalem - griechisch sprechende Juden aus der Diaspora dem Christentum an, aus deren Kreisen bald die meisten Missionare stammten. Schon nach wenigen Jahren wurden auch »Heiden« getauft, und einige Generationen später stellten sie schon die Mehrheit der Christen; ab der Mitte des 2. Jahrhunderts spielten Judenchristen in den Gemeinden als ethnische Gruppe kaum noch eine Rolle. Judenchristliche Theologie wurde nur noch literarisch, durch die Bibel, vermittelt.
Christ wird nur, wer seine Fragen und Hoffnungen mit Jesus verbindet und ihn als deren »Lösung« ansieht. Deswegen brachten Juden aus der Diaspora und, erst recht, »Heiden« ihre Mentalität, ihr Denken, ihr Wissen, ihre Ängste und Erwartungen ins Christentum ein; ihre hellenistischen Vorstellungen begannen, Liturgie, Ethik, Institutionen und Theologie zunehmend zu beeinflussen.
Seit den Eroberungen Alexanders des Großen war der östliche Teil des Mittelmeerraums und Vorderasien zu der synkretistischen Kultur des Hellenismus zusammengewachsen, die weithin von griechischem Denken, griechischer Sprache - sie wurde die Gebildeten- und Geschäftssprache, »koiné« - geprägt war, aber auch orientalische Strömungen und weitere regionale Einflüsse in sich aufgenommen hat. Die Einbeziehung dieses Raumes in das Römische Reich hatte zur Folge, dass sich der Hellenismus auch im Westen etablierte, seinerseits aber auch von römischen Ordnungsvorstellungen beeinflusst wurde.
Die Gestaltformen des Hellenismus sind vielfältig, und das gilt auch für seine religiösen Prägungen. Griechische und römische Gottheiten, zu Hause weiterhin im Sinne ihrer lokalen Traditionen verehrt, fanden Verehrung im ganzen Mittelmeerraum, lösten sich von ihrer heimatlichen Bindung, wurden zueinander oder zu anderen lokalen Gottheiten in Beziehung gesetzt oder miteinander identifiziert. Diese Nivellierung der Individualität der Götter verstärkte den Trend zu einer kosmischen Religiosität. Auch Mysterienkulte griechischer, asiatischer oder ägyptischer Provenienz kamen der Erlösungssehnsucht vieler Menschen entgegen und verbreiteten sich im ganzen Reich. Daneben gab es gnostische Strömungen, und auch die Philosophie gewann Züge religiöser Sinnstiftung. Allen gemeinsam ist, dass der Mensch sich als (wichtiges) Teil im Räderwerk des Kosmos sieht und dieser selbst in seinen letzten, geistigen Seinsgründen als göttlich betrachtet wird. Die Geschichte, deren Abläufe sich immer neu wiederholen (zyklische Auffassung) oder auch nur die szenische Darstellung metageschichtlicher Kausalitäten (statische Auffassung) sind, spielt für die religiöse Orientierung keine Rolle. In diesem kosmozentrischen Verstehen wurde die Bindung oder Verhaftung an das Materielle und an die Geschichte, somit Kontingenz und Endlichkeit, als negativ wahrgenommen; die äußersten Hoffnungen richteten sich darauf, diese Fesseln abzulegen und in den Bereich des Unendlichen, Geistigen, Göttlichen zu gelangen.
Das Christentum, aufgrund seiner jüdischen Herkunft eine sehr stark an der Geschichte und ihren handelnden Personen, vor allem an Jesus, interessiert, wurde zunehmend von hellenistischen Verstehensweisen geprägt. Der in der jüdischen Religion und bei Jesus persönlich vorgestellte Gott wird jetzt zur unwandelbaren und allmächtigen Fülle des Seins, tragender Grund des Kosmos und Ziel und Wirkursache des Alls. Aus dem Menschen Jesus, der im Auftrag des Vaters die Zeitenwende herbeiführt, wird der Mensch, der unsere Vergöttlichung bewirkt; dazu ist er imstande, weil er zugleich Mensch und Gott ist. Es bildet sich die Vorstellung von seiner ewigen Präexistenz und seiner Inkarnation aus, wie sie im Philipperbrief (2,6-11), im Johannesprolog oder in der altkirchlichen. Christologie zu finden ist. Trinitarische und christologische Auseinandersetzungen bestimmen die theologische Entwicklung des gesamtchristlichen Altertums.
Darüber hinaus wurden so gut wie alle christlichen Motive auf eine hellenistische Weise neu interpretiert oder wenigstens mit neuen Assoziationen verbunden: Die »Auferstehung des Fleisches«, jüdisches und judenchristliches Symbol der Hoffnung auf Gültigkeit von Geschichte, wird als Wiederbelebung des Leibes - Geist ist nach griechischer Vorstellung ohnehin unsterblich - verstanden; der Mensch, in der Bibel immer als ganzer vorgestellt, wird jetzt in zwei (Leib und Seele) oder drei naturale Bestandteile (Leib, Psyche, Geistseele) aufgegliedert. Die Hoffnung auf ein künftiges, baldiges erlösendes Handeln Gottes wird transponiert zu einem überweltlichen, metaphysischen Heil (Ent-eschatologisierung). Die bisher auf das vergangene Heilshandeln Gottes bezogenen Gottesdienste, die vor allem Gedächtnisfeiern Jesu waren, werden jetzt zu heiligen Mysterien, in denen die sakrale Gegenwart des Göttlichen erfahren wird; aus der Geschichtserinnerung wird die präsentische Erfahrung Gottes. Überhaupt setzt bald ein umfassender Sakralisierungsprozess ein, bei dem auch ursprünglich »profane« christliche Gegebenheiten jetzt sakral interpretiert wurden: Aus dem »Ältesten«, Presbyter, und »Aufseher«, Episkopos, wurde ein sakraler »Priester«, aus dem »Gedächtnis Jesu« ein »furchtbares Mysterium«, das vom Bereich des Profanen auszugrenzen ist, aus der Todeshingabe Jesu - einem »Opfer« in übertragenem Sinn - ein rituelles »Opfer« am Kreuz. Die Forderungen der Nachfolge Jesu wurden zunehmend auf eine griechische Weise konkretisiert: als Nicht-Bindung an Besitz, Sexualität, eigenen Willen und somit als ein geistliches, nicht der Materie verhaftetes Leben.
Der Hellenismus im Römischen Reich kannte aber auch große Regionen, in denen die ursprünglichen Kulturtraditionen noch eine größere Bedeutung behalten konnten; das gilt vor allem für die syrischen und lateinischen Reichsteile. Dort traten spezifisch hellenistische Motive ein wenig zurück, stattdessen bildeten sich eigene Schwerpunkte aus. Dennoch aber lässt sich für die ganze christliche Antike ein tiefreichender Hellenisierungsprozess feststellen. Weil die großen ökumenischen Konzilien diese Theologie dogmatisierten, wurde sie zum verbindlichen Erbe der nachfolgenden christlichen Epochen.
Prof. Dr. Karl-Heinz Ohlig
Christologie, bearbeitet von Karl-Heinz Ohlig. Band 1: Von den Anfängen bis zur Spätantike. Graz u. a. 1989.
Universal-Lexikon. 2012.