kritischer Rationalịsmus,
Sammelbezeichnung für eine philosophische, insbesondere wissenschaftstheoretische Strömung des 20. Jahrhunderts, die v. a. im angelsächsischen Raum einflussreich geworden ist. Im Unterschied zum klassischen Rationalismus behauptet der kritische Rationalismus die prinzipielle Widerlegbarkeit alles erfahrungswissenschaftlichen Wissens. Die einzige Methode des Erkenntnisgewinns auf der Basis von Erfahrung besteht demnach in der kritischen Auseinandersetzung mit dem vermeintlich Gewussten, wobei die Konfrontation mit neuen Erfahrungsdaten eine zentrale Rolle spielt. Aussagen, zu denen keine widerlegende Erfahrung denkbar ist, sind als unwissenschaftlich zu verwerfen. Die Empirie kann aber nicht, wie der klassische Empirismus gemeint hat, Wissen endgültig verifizieren, sondern kann immer nur Hypothesen vorläufig bestätigen. (Induktion)
Der kritische Rationalismus erhebt die Falsifikation zur Methode: Alle Hypothesen müssen immer wieder Tests unterworfen werden. Dabei sind solche Tests zu bevorzugen, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Widerlegung besonders groß ist (»riskante Tests«). Eine Hypothese, die viele Widerlegungsversuche überstanden hat, heißt bewährt. Selbst die fundamentalen Prinzipien der Wissenschaft, z. B. das Kausalprinzip (Kausalität), sind nur hochgradig bewährte Hypothesen, die sich als falsch erweisen können. Gegen den klassischen Empirismus betont der kritische Rationalismus die Theoriegeleitetheit aller Beobachtung: Selbst die einfachste Beobachtung wird von theoretischen Vorannahmen beeinflusst, weshalb der eigentliche Gegenstand der Erfahrungswissenschaften eben nicht Erfahrungen, sondern Theorien über diese sind. Weiter behauptet der kritische Rationalismus die Wertfreiheit der Wissenschaft, d. h., er behauptet, dass für das Fortschreiten der Wissenschaft nur wissenschaftsinterne vernunftmäßige Gründe ausschlaggebend seien und dass die Wissenschaft nur das beschreiben könne, was ist, und nicht das, was sein sollte (Positivismusstreit). Der wissenschaftliche Fortschritt wird vom kritischen Rationalismus im Wesentlichen als stetiger Prozess gesehen, in dessen Verlauf Theorien so erweitert werden, dass sie immer mehr Phänomene erklären können. Verschiedene Theorien über einen Gegenstandsbereich sind prinzipiell hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruches miteinander vergleichbar, weswegen sich der wissenschaftliche Fortschritt als zunehmende Annäherung an die (nichterreichbare) Wahrheit darstellt.
Bei der Durchführung des Programmes des kritischen Rationalismus ergaben sich zahlreiche Einzelschwierigkeiten, z. B. das Problem nichtfalsifizierbarer Existenzaussagen (»Es gibt Atome«), die von großer Wichtigkeit für die Wissenschaft sind, und die Frage nach dem Status des Falsifikationsprinzips (ist auch dieses fallibel ?). Neuere wissenschaftshistorische Untersuchungen haben die Vorstellung eines stetigen Wachstums in der Wissenschaft infrage gestellt. Dennoch bleibt der kritische Rationalismus eine der einflussreichsten Positionen in der Wissenschaftstheorie.
Begründet und ausgebaut wurde der kritische Rationalismus von K. R. Popper (»Logik der Forschung«, 1935). Dieser hat auch die Grundvorstellungen des kritischen Rationalismus auf die Ethik zu übertragen versucht, wobei er die Möglichkeit einer vernunftgemäßen Letztbegründung von Normen bestreitet und die Notwendigkeit von Dezisionen betont beziehungsweise utopische Ideale als totalitär zurückweist und stattdessen eine Politik der kleinen Schritte fordert. I. Lakatos hat die Entwicklung der Mathematik aus der Sicht des kritischen Rationalismus analysiert. Bekannte Vertreter des kritischen Rationalismus in Deutschland sind W. Stegmüller und H. Albert.
H. Seiffert: Einf. in die Wissenschaftstheorie, 3 Bde. (1-101983-85);
H. Albert: Traktat über krit. Vernunft (51991);
E. Ströker: Einf. in die Wissenschaftstheorie (41992);
K. R. Popper: Logik der Forschung (101994).
Universal-Lexikon. 2012.