Wịs|sen|schafts|the|o|rie 〈f. 19; unz.〉 Zweig der Philosophie, der sich mit den allen Wissenschaften gemeinsamen theoretischen Grundlagen befasst
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Wịs|sen|schafts|the|o|rie, die <o. Pl.>:
Teilgebiet der Philosophie, in dem die Voraussetzungen, Methoden, Strukturen, Ziele u. Auswirkungen von Wissenschaft untersucht werden.
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Wissenschaftstheorie,
englisch Philosophy of Science [fɪ'lɔsəfɪ əv 'saɪəns], seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Übersetzung des englischen Terminus allgemein üblich gewordener Begriff: wörtlich die Theorie von der Wissenschaft überhaupt. Die Wissenschaftstheorie beschäftigt sich demnach mit Begriff und Einteilung der Wissenschaft, ihren Erkenntnisprinzipien, ihren Methoden und ihrer Sprache. Im Sinne der Erkenntnistheorie behandelt die Wissenschaftstheorie Möglichkeit, Voraussetzungen und Geltungsgrundlagen der Wissenschaft. Die scheinbar selbstvertändliche, weil sich aus dem Wortlaut ergebende allgemeine Definition der Wissenschaftstheorie steht aber erst am Ende eines geschichtlichen Prozesses.
Der erste »Wissenschaftstheoretiker« war Aristoteles, der mit seinen logischen Schriften (»Organon«) und mit der »Metaphysik« die noch heute gültigen Grundbegriffe (wie »Form/Inhalt«) und Arbeitsverfahren (Schluss, Beweis, Definition) sowie die Einteilung der Wissenschaften in theoretische (auf die Erkenntnis zielende) und praktische (auf das Handeln zielende) Wissenschaften geprägt hat. Diese aristotelische »Wissenschaftstheorie« fand ihre Weiterentwicklung im neuzeitlichen Rationalismus (R. Descartes) und Empirismus (F. Bacon).
Dementsprechend war die Wissenschaftstheorie zunächst an Mathematik und Logik einerseits (»logizistisch«) und an den Erfahrungswissenschaftenen andererseits (»empiristisch«) ausgerichtet. So ist es verständlich, dass am Beginn der Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts Mathematiker und Logiker wie G. Frege und B. Russell einerseits und philosophisch interessierte Naturwissenschaftler wie H. von Helmholtz und E. Mach andererseits standen. Unter Wissenschaftstheorie im engeren Sinn werden seitdem zum einen die Wiener Philosophie des 1. Drittels des 20. Jahrhunderts, d. h. die »analytische« (logisch-empiristische) Wissenschaftstheorie (R. Carnap), zum anderen der kritische Rationalismus von K. R. Popper verstanden. In ihrer Tradition stehen etwa W. V. O. Quine, T. S. Kuhn, I. Lakatos. Als ihre Repräsentanten in der deutschen Philosophie gelten W. Stegmüller (für Carnap) und H. Albert (für Popper).
Nach 1945 entwickelten sich in der Bundesrepublik Deutschland zwei neue Richtungen der Wissenschaftstheorie: 1) der sich v. a. auf Frege, H. Dingler und innermathematische Traditionen (L. E. J. Brouwer, H. Weyl) stützende Konstruktivismus (P. Lorenzen, nach ihm die Erlanger und Konstanzer Schule); 2) die neomarxistisch-freudianisch geprägte kritische Theorie (M. Horkheimer, T. W. Adorno, J. Habermas), die sich nicht aus der alle bisher genannten Strömungen bestimmenden logisch-empiristischen Tradition herleitet, sondern ihre Wurzel in den Geistes- und Sozialwissenschaften hat. An diese Wissenschaftstheorie knüpft seit Anfang der 70er-Jahre auch der Starnberger Kreis an, der den Zusammenhang zwischen Naturwissenschaftsgeschichte und Gesellschaft kritisch untersucht (u. a. Gernot Böhme, * 1927).
Eine wissenschaftsgeschichtlich orientierte Wissenschaftstheorie entwickelte sich in Frankreich (Georges Canguilhem, * 1904, ✝ 1995; G. Bachelard, M. Foucault). - Das Prinzip der Selbstorganisation von Systemen bildet in neuerer Zeit die Grundlage einer systemtheoretisch orientierten Wissenschaftstheorie (Erich Jantsch, * 1929, ✝ 1980; I. Prigogine, F. Capra, Humberto Maturana, * 1928).
Die logisch-empiristische Tradition der Wissenschaftstheorie ließ außer Acht, dass sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts (mit Wurzeln im 18. und 17. Jahrhundert) eine geisteswissenschaftliche, historisch-philologisch-hermeneutische Wissenschaftstheorie entwickelt hatte (vertreten von Philosophen wie F. D. E. Schleiermacher, W. Dilthey, F. Nietzsche, dem Philologen A. Böckh, den Historikern L. von Ranke und G. Droysen). Diese Wissenschaftstheorie stützt sich auf die Interpretation historischer Zeugnisse aller Art (Hermeneutik, im 20. Jahrhundert v. a. H.-G. Gadamer), die ihrem Gegenstand angemessen ebenso »exakt« ist wie die auf logisch-empiristische Methoden gestützte Wissenschaftstheorie im üblichen Sinne.
Der hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Methode nahe verwandt ist die von E. Husserl begründete Phänomenologie; beide Ansätze fassten Philosophen wie O. F. Bollnow zusammen. Eine besonders ausdifferenzierte Wissenschaftstheorie auf geisteswissenschaftlich-phänomenologischer Grundlage stellen die wissenschaftsbezogenen Teile der »Ontologie« von N. Hartmann dar.
Die zwei Großtraditionen der Wissenschaftstheorie, die zunächst völlig beziehungslos nebeneinander standen, werden erst seit etwa den 60er-Jahren als Teile einer Wissenschaftstheorie im umfassenden, alle Wissenschaftsgebiete übergreifenden Sinne gesehen und gemeinsam dargestellt (J. M. Bocheński u. a.). Wissenschaftstheorie kann seitdem angemessen nur verstanden werden als »Theorie aller Art über Wissenschaftsbereiche aller Art«. Diese Theorie ist weder nur abstrakte Philosophie noch nur handwerkliche Methodenlehre, sondern die Verschränkung von beiden: philosophisch reflektierte, aber immer an der Sache bleibende jeweils fachspezifische Methodenlehre.
Studien zur W., hg. v. A. Diemer, 11 Bde. (1968-78);
W. Stegmüller: Probleme u. Resultate der W. u. analyt. Philosophie, 23 Tle. (Neuausg. 1-21970-86);
W. Leinfellner: Einf. in die Erkenntnis- u. W. (31980);
J. Habermas: Zur Logik der Sozialwiss.en (Neuausg. 1985);
H. Seiffert: Einf. in die W., 4 Bde. (1-121992-96);
E. Ströker: Einf. in die W. (41992);
J. M. Bocheński: Die zeitgenöss. Denkmethoden (101993);
Handlex. der W., hg. v. H. Seiffert u. a. (Neuausg. 7.-9. Tsd. 1994);
J. Schröter: Zur Meta-Theorie der Physik (1996);
R. Carnap: Der log. Aufbau der Welt (Neuausg. 1998).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Wissenschaftstheorie und Hermeneutik: Erklären und Verstehen
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Wịs|sen|schafts|the|o|rie, die <o. Pl.>: Teilgebiet der Philosophie, in dem die Voraussetzungen, Methoden, Strukturen, Ziele u. Auswirkungen von Wissenschaft untersucht werden.
Universal-Lexikon. 2012.