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Rationalismus
Ra|ti|o|na|lịs|mus 〈m.; -; unz.〉
1. Auffassung, dass die Welt von vernünftiger, d. h. logischer, logisch berechenbarer Beschaffenheit sei
2. jede Lehre, die die Vernunft, das log. Denken in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt; Ggs Empirismus
3. Vernunftstandpunkt, rein vernunftgemäßes Denken; Ggs Irrationalismus

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Ra|ti|o|na|lịs|mus, der; -:
1. (Philos.) erkenntnistheoretische Richtung, die allein das rationale Denken als Erkenntnisquelle zulässt.
2. (bildungsspr.) vom Rationalismus (1) geprägte Art.

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Rationalịsmus
 
[zu lateinisch ratio »Vernunft«] der, -,  
 1) Philosophie: Grundrichtung des philosophischen Denkens, die von der Überzeugung ausgeht, dass die Welt dem Verstand und der Vernunft gemäß, d. h. von logischer, gesetzmäßig berechenbarer Beschaffenheit sei (metaphysischer Rationalismus), nicht allein aus der sinnlichen Erfahrung in ihrem Wesen erkannt werden könne (erkenntnistheoretischer Rationalismus) und dass das sittliche Handeln von Vernunftwahrheiten geleitet werde (ethischer Rationalismus). Der erkenntnistheoretische Rationalismus geht im Gegensatz zu Empirismus und Sensualismus davon aus, dass es Vernunftwahrheiten gibt, die von aller Erfahrung unabhängig (a priori) und von höherem Rang sind als die aus der Erfahrung geschöpften Erkenntnisse, und dass auf ihnen das Gebäude der Philosophie zu errichten ist. - Als Vorbild reiner Vernunfterkenntnis gelten Logik, Mathematik und Naturwiss.en. Der Rationalismus behauptet den Primat der Vernunft gegen lebensweltliche Zusammenhänge, soweit sie nicht rational bestimmbar sind (Traditionen, Vorurteile, Aberglauben, Mystizismus, autoritäre Setzungen). Nach rationalistischer Auffassung sind alle geschichtliche Erscheinungen, besonders die Kulturgebilde, aus vernunftgeleiteten Erwägungen und Entschlüssen der handelnden Menschen entstanden - z. B. der Staat aus bewusster Vereinbarung, Sprache und Kunst aus absichtsvoller Erfindung, Religion ohne Offenbarung - oder sie lassen sich als solche rational rekonstruieren.
 
Die geistesgeschichtliche Entwicklung der Systeme des Rationalismus setzte im 17./18. Jahrhundert ein. Ausschlaggebend dafür war R. Descartes mit seinem erkenntniskritischen Rückgang auf das Subjekt (»Cogito, ergo sum«), seiner Lehre von den angeborenen Ideen (im Unterschied zum Empirismus etwa bei J. Locke, wonach wir nur durch Erfahrung zu Bewusstseinsinhalten gelangen). Weitere Hauptvertreter waren B. de Spinoza, etwa mit seinem Entwurf einer Ethik »more geometrico« (»nach Art der Geometrie«), G. W. Leibniz mit seiner »mathesis universalis«, d. h. dem Programm einer (alle formalen und a priori begründbaren Wissenschaften einschließenden und ihrerseits an der Mathematik orientierten) Universalwissenschaft, sowie C. Wolff. In I. Kants Lehre vom synthetischen Urteil a priori findet der Rationalismus dann sein Grundprinzip, d. h. die »Bedingung der Möglichkeit« einer sich selbst begreifenden Vernunft. Die rationalistische Bewegung fand ihren Höhepunkt in der Aufklärung, die sich sowohl auf den cartesianischen (erkenntnistheoretischen) Rationalismus im engeren Sinn als auch auf das den klassischen Empirismus organisierende Programm einer rational geplanten Erfahrungs- und Lebenswelt bezog. Rationalismus und Empirismus im klassischen Sinne erweisen sich von daher als erkenntnistheoretische Varianten der aufklärerischen Einsicht in den Zusammenhang von Vernunft und Erfahrung sowie des Primats der wissenschaftlichen Vernunft (»l'esprit géométrique«) gegenüber traditionellen, auch theologische Orientierungen.
 
Die Auswirkungen des Rationalismus zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert waren groß, besonders in der Religionswissenschaft und protestantischen Theologie (Überprüfung der Glaubenslehre an den Maßstäben der Vernunft, Umdeutung der Dogmen in Vernunftwahrheiten, der Wunder in natürliche Vorgänge). Bis heute haben die Entwicklungen auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiet Universalisierungstendenzen des Rationalismus bestärkt, wonach dieser u. a. auch für die Erkenntnisse von Geschichtsverläufen wie für psychologische und lebensweltliche Zusammenhänge (rationale Analyse und Planung) allein maßgeblich sei. Andererseits wurden mit der Aufklärung zugleich die Grenzen des Rationalismus deutlich: u. a. Verkennung der Macht des Unbewussten und der nichtrationalen Seelenkräfte, die Unterschätzung überrationaler Wertsetzungen. So finden sich im 18. bis 20. Jahrhundert auch zahlreiche Ansätze einer Rationalismuskritik, u. a. im Sturm und Drang und der Romantik (irrational), bei F. Nietzsche, H. Bergson, M. Heidegger, in der neueren französischen Philosophie (J.-P. Sartres Kritik am die abendländische Philosophiegeschichte bestimmenden Totalitarismus der Vernunft, Einsicht in die faktische Pluralität von Diskursen und Lebenswelten), in differenzierter Form in der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus (K. R. Popper u. a.) und der Gesellschaftstheorie der kritischen Theorie (M. Horkheimer, T. W. Adorno).
 
War Erkenntnis im traditionellen Sinne an der Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit orientiert, so haben die Differenzierungen der Wissenschaft und Wissenschaftsbereiche zunehmend zu einem konstruktiven Arbeiten mit verschiedenen Systemmodellen geführt, die, von einer immanenten Logik bestimmt, nicht ineinander übersetzbar oder miteinander verknüpfbar sind; in diesem Sinne hat die Wissenschaftsentwicklung zu einer Pluralität von Rationalitäten geführt, was dem ursprünglichen Anspruch des Rationalismus als einem universalen Prinzip nicht mehr entspricht. Zum anderen haben u. a. die Entwicklungen der Wissenschaften selbst das Ungenügen eines ausschließlich wissenschaftlich-technologischen Denkens und des rationalistisch-aufklärerischen Fortschrittsoptimismus zur Lösung der Probleme von Mensch und (Um-)Welt erwiesen; sie haben zu der Erkenntnis beigetragen, dass naturwissenschaftlich-technische Rationalität in lebensweltliche Zusammenhänge eingebettet ist, die von (politisch-praktischen, ethischen, ästhetischen, ökologischen) Normen und Werten bestimmt sind und nicht auf jene reduziert werden können.
 
Literatur:
 
E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie u. Wiss. der neueren Zeit, 4 Bde. (2-31922-57, Nachdr. 1995);
 J. Mittelstrass: Neuzeit u. Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitl. Wiss. u. Philosophie (1970);
 G. Bachelard: Le rationalisme appliqué (Paris 51975);
 G. Bachelard: Die Bildung des wiss. Geistes (a. d. Frz., Neuausg. 1987);
 
Sinnlichkeit u. Verstand in der dt. u. frz. Philosophie von Descartes bis Hegel, hg. v. H. Wagner (1976);
 
Gesch. der Philosophie in Text u. Darst., hg. v. R. Bübner, Bd. 5: R., hg. v. R. Specht (1979);
 
Truth, knowledge and reality, hg. v. G. H. R. Parkinson (Wiesbaden 1981);
 J. Zelený: Dialektik der Rationalität (Neuausg. 1986);
 H.-J. Engfer: Empirismus versus R.? (1996);
 H. Radermacher: Grundlegung eines Neorationalismus (Bern 1996).
 
 2) Sprachwissenschaft: am philosophischen Rationalismus orientierte Sprachkonzeption, cartesianische Linguistik, Mentalismus.
 

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Ra|ti|o|na|lịs|mus, der; -: 1. (Philos.) erkenntnistheoretische Richtung, die allein das rationale Denken als Erkenntnisquelle zulässt. 2. vom ↑Rationalismus (1) geprägte Art: Burke greift ... den R. der neuen Staatslehre an (Fraenkel, Staat 170).

Universal-Lexikon. 2012.