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Wahrscheinlichkeit
Wahr|schein|lich|keit 〈f.; -; unz.〉 das Wahrscheinlichsein, vermutete Richtigkeit, annähernde Gewissheit ● die \Wahrscheinlichkeit, dass die Verschütteten tot sind, ist leider groß; aller \Wahrscheinlichkeit nach wahrscheinlich

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Wahr|schein|lich|keit, die; -, -en:
1. <Pl. selten> das Wahrscheinlichsein:
etw. hat eine hohe, geringe W.;
etw. wird mit hoher, großer W. eintreffen;
aller W. nach (sehr wahrscheinlich).
2. (Fachspr.) Grad (1 a) der Möglichkeit des Eintretens bzw. der Voraussagbarkeit eines Ereignisses.

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I
Wahrscheinlichkeit
 
[nach niederländisch waarschijnlijk »wahrscheinlich«, zu waar »wahr«, wohl Lehnübersetzung von lateinisch verisimilis],
 
 1) allgemein ein Begriff zur klassifikatorischen, komparativen oder quantitativen Einstufung von Aussagen oder Urteilen nach dem Grad ihres Geltungsanspruchs zwischen Möglichkeit und Gewissheit (Zufall), wobei zwar die Gründe für den Geltungsanspruch, dass sich eine Sache (Ereignis, Handlung) so und nicht anders verhält, verhalten hat oder verhalten beziehungsweise verwirklichen wird, überwiegen, jedoch nicht oder noch nicht ausreichen, um die Annahme des Gegenteils auszuschließen. Mitunter wird noch unterschieden zwischen der Wahrscheinlichkeit a priori, die theoretisch-logisch erfahrungsunabhängig begründet wird, und der Wahrscheinlichkeit a posteriori, bei der der Grad der Wahrscheinlichkeit aus der Erfahrung, z. B. durch Versuche (Experimente) oder statistische Erhebungen, bestimmt wird.
 
 2) Mathematik: Zeichen P (von englisch »probability«) oder W, auf dem Zufallsversuch beruhender Grundbegriff der Wahrscheinlichkeitstheorie, der den Grad der Möglichkeit beziehungsweise Voraussagbarkeit des Eintretens eines (stochastischen) Ereignisses beschreibt.
 
Messung und Interpretation von Wahrscheinlichkeit:
 
In der Wahrscheinlichkeitstheorie kann man die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses in einem Zufallsversuch nur auf der Basis von Ausgangsdaten, d. h. bekannter Wahrscheinlichkeiten anderer Ereignisse, berechnen. Andererseits müssen berechnete Wahrscheinlichkeiten, die oft als Grundlage für Entscheidungen (z. B. ökonomischer Natur) dienen, interpretiert werden. Beides kann von der Wahrscheinlichkeitstheorie nicht geleistet werden. Beispielsweise ist die Frage nach der Wahrscheinlichkeit P (A ) des Ereignisses A: »eine aus den Familien einer bestimmten Stadt zufällig ausgewählte Familie hat zwei Kinder« keine Frage der Wahrscheinlichkeitstheorie (sofern nicht schon Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen bekannt sind, die P (A ) bestimmen). Wahrscheinlichkeiten als Ausgangsdaten müssen empirisch gemessen oder subjektiv (z. B. unter Verwendung von Erfahrung) oder aufgrund von Modellvorstellungen festgelegt werden.
 
Bei Zufallsversuchen mit N Ausgängen, von denen jeder die gleiche Chance hat, bei einmaliger Durchführung des Zufallsversuchs aufzutreten, verwendet man das nahe liegende Laplace-Modell, bei dem für alle Ausgänge die gleiche Wahrscheinlichkeit 1/N angenommen wird. Es ist z. B.beim Werfen eines »idealen« (d. h. präzise gefertigten) Würfels oder beim einmaligen Ziehen aus einer gut gemischten Urne mit N = 20 Kugeln gerechtfertigt und liefert als Ausgangsdaten, dass jede der sechs Augenzahlen die Wahrscheinlichkeit 1/6 besitzt und dass jede der 20 Kugeln mit der Wahrscheinlichkeit 1/20 gezogen wird. Auf dem Laplace-Modell basiert die historisch früheste, sogenannte klassische Definition der Wahrscheinlichkeit von P. S. Marquis de Laplace, wonach die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses A in einem solchen Zufallsversuch gleich dem Quotienten aus der Anzahl der zu A gehörenden Versuchsausgänge (der »günstigen« Fälle) und der Anzahl N aller möglichen Versuchsausgänge ist.
 
In den meisten praktischen Fällen ist das Laplace-Modell zur Festlegung der Ausgangsdaten nicht anwendbar, und selbst im Falle seiner Anwendbarkeit liefert es zur Interpretation berechneter Wahrscheinlichkeiten keinen Hinweis. Deshalb wird in solchen Situationen die häufigkeitstheoretische (frequentistische oder statistische) Definition der Wahrscheinlichkeit angewendet. Ausgangspunkt dieser Sichtweise ist die Forderung, dass P (A ) als »Prognosewert« für die relative Häufigkeit des Auftretens von A bei zukünftiger n-maliger Wiederholung des Zufallsversuchs unter gleich bleibenden Bedingungen dienen soll. Dies ergibt folgende Messvorschrift: Wird bei n-maliger Wiederholung des Zufallsversuchs unter gleich bleibenden Bedingungen das Eintreten von A in der Stichprobe x = (x1, x2,. .., xn) der Beobachtungen Hx (A )-mal beobachtet, so wird P (A ) durch die relative Häufigkeit hx (A ) = Hx (A ) / n gemessen, sofern n »genügend groß« ist (in der Praxis sind einer solchen Bestimmung von P (A ) dadurch Grenzen gesetzt, dass sich die Versuchsbedingungen nicht beliebig lange konstant halten lassen). Diese Sichtweise wird durch das empirische Gesetz der großen Zahlen gestützt: Es scheint eine dem Ereignis A objektiv zugeordnete Zahl P (A ) zu geben, der sich hx (A ) beliebig nähert, wenn n genügend groß wird. Diese Erfahrungstatsache kann mathematisch nicht bewiesen werden, auch nicht durch das bernoullische Theorem. Dieses dient jedoch als Rechtfertigung dafür, dass sich die von A. N. Kolmogorow vorgenommene Axiomatisierung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Wahrscheinlichkeitstheorie an den folgenden drei grundlegenden Eigenschaften relativer Häufigkeiten orientiert: 1) Die relative Häufigkeit ist nicht negativ. 2) Die relative Häufigkeit des sicheren Ereignisses ist eins. 3) Die relative Häufigkeit zweier unvereinbarer Ereignisse ist die Summe der relativen Häufigkeiten der beiden Ereignisse.
 
Neben der frequentistischen gibt es die subjektive Betrachtungsweise. Hier wird die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses A als Grad der subjektiven Überzeugung vom Eintreten von A bei einmaliger Durchführung des Zufallsversuchs interpretiert. Welche der beiden Sichtweisen zur Messung von Wahrscheinlichkeit gewählt wird, hat keinen Einfluss auf die Berechnungen in der Wahrscheinlichkeitstheorie.
 
 3) Physik: Von großer Bedeutung sind Wahrscheinlichkeiten überall dort, wo ein Untersuchungsgegenstand stochastischer Eigenschaften aufweist oder eine Problemstellung mithilfe statistischer Methoden behandelt werden muss. Dies betrifft v. a. die statistische Mechanik und die Quantenmechanik mit ihren spezifischen Wahrscheinlichkeitsbegriffen.
 
In der statistischen Mechanik wird die thermodynamische Wahrscheinlichkeit definiert als die Zahl der Realisierungsmöglichkeiten eines Makrozustands, d. h. die Anzahl der verschiedenen Mikrozustände, die zu einem bestimmten Makrozustand des thermodynamischen Systems führen; sie ist stets groß gegen 1 und daher von einer Wahrscheinlichkeit im herkömmlichen mathematischen Sinne zu unterscheiden. Die Zahl W von Mikrozuständen erhält man durch Abzählen aller Möglichkeiten, die Systemteilchen dem Makrozustand entsprechend auf die Phasenraumzellen zu verteilen (»Boltzmann-Abzählung«, Boltzmann-Statistik). Für quantenstatistische Systeme ist die Nichtunterscheidbarkeit der Systemteilchen zu berücksichtigen, die eine andere Abzählung der Zustände (hier bezogen auf die möglichen Quantenzustände) erfordert. Gemäß dem Boltzmann-Postulat ist die thermodynamische Wahrscheinlichkeit eng mit der Entropie S des Systems verknüpft, und es gilt S = k ln W (k Boltzmann-Konstante). Diese beiden Größen liefern damit die Verbindung zwischen Statistik und phänomenologischer Thermodynamik, wobei im thermodynamischen Gleichgewicht die Entropie sowie die thermodynamische Wahrscheinlichkeit ein Maximum annehmen. Der Zusammenhang zur Verteilungsfunktion des Systems folgt über das H-Theorem, wobei die Entropie mit S = —kH identifiziert wird.
 
In der Quantenmechanik treten nach der Kopenhagener Deutung Wahrscheinlichkeitsbegriffe, v. a. der des Erwartungswerts, unabdingbar an die Stelle der deterministischen Beschreibung in der klassischen Physik. In der Quantenmechanik, anders als z. B. in der klassischen statistischen Mechanik, lässt sich also nicht einmal gedanklich unterstellen, eine deterministische Beschreibungsweise sei prinzipiell möglich und man verzichte nur aus praktischen Erwägungen darauf. Aus dem unausweichlich statistischen Charakter der Quantenmechanik folgt einerseits, dass im Allgemeinen ein Ergebnis einer Einzelmessung an einem Quantensystem nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden kann, andererseits, dass aus einer Einzelmessung an einem Quantensystem keine eindeutigen Schlüsse über dieses gezogen werden können.
 
II
Wahrscheinlichkeit,
 
Statistik.

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Wahr|schein|lich|keit, die; -, -en: 1. <Pl. selten> das Wahrscheinlichsein: Einige W., dass Rambert an Gefangenenbefreiungen beteiligt war, erscheint dem Staatsanwalt zwar erstellt, nicht aber der strikte Beweis (NZZ 5. 11. 82, 23); etw. hat eine hohe, geringe W.; Dass diese Frau eine Geisteskranke ist, hat für mich neunzig Prozent W. (Hauptmann, Schuß 53); auch das hatte wenig W. für sich (war wenig wahrscheinlich; Musil, Mann 341); Es gibt ... Bereiche, innerhalb deren ich ... geringe -en subjektiv unterschätze (Hofstätter, Gruppendynamik 77); Die Entscheidung fiel ... eigentlich gegen alle W. (Thieß, Reich 272); etw. wird mit hoher, großer W. eintreffen; *aller W. nach (sehr wahrscheinlich). 2. (Fachspr.): Grad (1 a) der Möglichkeit des Eintretens bzw. der Voraussagbarkeit eines Ereignisses: Der Begriff der W. ist untrennbar mit dem des Zufallsversuchs verbunden und wie dieser ein Grundbegriff der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Mathematik II, 430).

Universal-Lexikon. 2012.