Rimbaud
[rɛ̃'bo], Jean Nicolas Arthur, französischer Dichter, * Charleville (heute Charleville-Mézières) 20. 10. 1854, ✝ Marseille 10. 11. 1891; gilt als faszinierendste Figur der literarischen Moderne: explosiv, rätselhaft, provokant. Nach frühem Ausbruch aus dem bigotten Provinzmilieu in die Pariser Boheme und einer turbulent-skandalösen Liaison mit P. Verlaine (1871-73) folgten der Abbruch des Dichtens nach nur vier Jahren, unruhiges Umherreisen (England, Deutschland, Italien, Java, Skandinavien, Zypern), diverse Metiers (Sprachlehrer, Söldner, Zirkusdolmetscher, Steinbruchaufseher), zuletzt (1880-91) eine Anstellung bei europäischen Handelshäusern in Aden und Harar (Handel mit Kaffee und Häuten, Waffenschmuggel, Expeditionen nach Schoa und Somaliland; Forschungsberichte); kehrte schwerkrank nach Frankreich zurück.
Extrem verlief auch Rimbauds literarische Entwicklung. Auf frühe Gedichte in der Tradition von Romantik (V. Hugo) und Parnasse (T. de Banville) folgte die radikale Revolte gegen den bürgerlichen Kosmos schlechthin. Schon die »Lettres du voyant« (entstanden 1871, herausgegeben 1912 und 1926; deutsch »Seher-Briefe«) formulieren poetische Positionen, die den Text und die Welt aus den Angeln zu heben suchen: Die »Entsubjektivierung« der Poesie lässt den Dichter zum Seher werden; er setzt sich physisch-psychischen Grenzerfahrungen aus und schaut neue, fremde Welten, Chaos und Transzendenz jenseits technisch-wissenschaftlicher Rationalität. Neu, universal, verfremdend und von düsterer Schönheit ist auch die Sprache, in der diese Visionen ihren Ausdruck finden (womit Rimbaud Postulate C. Baudelaires in radikaler Form einlöst): »Le bâteau ivre« (entstanden 1871, herausgegeben 1883; deutsch »Das trunkene Schiff«), »Les illuminations« (entstanden 1872-74?, herausgegeben 1886; deutsch »Illuminationen«), »Une saison en enfer« (1873; deutsch »Eine Zeit in der Hölle«) sind Schlüsseltexte der Moderne; Entgrenzung, Fragmentierung, Zerstörung Schlüsselwörter rimbaudschen Dichtens, das durch rhythmische Prosa statt strenger Metren, sinnlich scharfe, doch irreale Bilder, semantische Inkongruenzen und schrille Dissonanzen zwischen Klangmelodie und Aussagegehalt sowie äußerst verknappte Syntax gekennzeichnet ist. Der Vielfalt der Interpretationsansätze (von der Psychoanalyse bis zur Kabbala) entspricht die lebhafte Mythenbildung um Rimbaud: dem (agnostischen) Mystiker verdankte P. Claudel sein Erweckungserlebnis, auf den »Anarchisten« berief sich die Beatgeneration, der Sprach-»Ingenieur« und »Wortalchimist« wies Symbolisten, Expressionisten (G. Trakl) und Surrealisten (A. Breton) den Weg. Ins Deutsche wurde er u. a. von T. Däubler, S. George, P. Celan und K. Krolow übersetzt.
Ausgaben: Poésies, herausgegeben von H. de Bouillane de Lacoste (Neuausgabe 1947); Correspondance: 1888-1891, herausgegeben von J. Voellmy (1965); Œuvres complètes, herausgegeben von A. Adam (Neuausgabe 1983); Œuvres poétiques, herausgegeben von C. A. Hackett (1986); Œuvres, herausgegeben von A. Guyaux (Neuausgabe 1991).
Sämtliche Dichtungen, herausgegeben und übersetzt von W. Küchler (61982; französisch und deutsch); Seiten-Sprünge, übersetzt von H. Therre u. a. (1986); Das poetische Werk, übersetzt von H. Therre u. a. (Neuausgabe 1988); Gedichte, übersetzt von K. L. Ammer (51989); Sämtliche Dichtungen, Nachdichtung von P. Zech (1990); Seher-Briefe. Lettres du voyant, übersetzt und herausgegeben von W. von Koppenfels (1990); Sämtliche Werke, herausgegeben von T. Keck (1992).
R. Étiemble: Le mythe de R., 5 Bde. (Paris 1952-68);
R. Kloepfer u. U. Oomen: Sprachl. Konstituenten moderner Dichtung. Entwurf einer deskriptiven Poetik. R. (1970);
J. Rivière: R. (a. d. Frz., Neuausg. 1979);
A. Guyaux: Duplicités de R. (Paris 1991);
R. vivant. Eine Anthologie, hg. v. B. Albers (1989);
G. Bayo: L'œuvre inconnue de R. (Troyes 1990);
S. Murphy: Le premier R. ou l'apprentissage de la subversion (Lyon 1990);
E. Starkie: Das Leben des A. R. (a. d. Engl., Neuausg. 1990);
C. Jeancolas: Le dictionnaire R. (Paris 1991);
Y. Bonnefoy: A. R. (a. d. Frz., 30.-32. Tsd. 1994).
Zeitschriften:
R. vivant. Bulletin des amis de R. (Paris 1973 ff.);
Parade sauvage. Revue d'études rimbaldiennes (Charleville-Mézières 1984 ff.).
Universal-Lexikon. 2012.