Akademik

Hörspiel
Hör|spiel ['hø:ɐ̯ʃpi:l], das; -[e]s, -e:
für den Rundfunk geschriebenes oder bearbeitetes Stück:
ein Hörspiel schreiben, aufnehmen, senden; ich habe gestern ein interessantes Hörspiel im Radio gehört.

* * *

Hör|spiel 〈n. 11; Rundfunkfür u. durch den Rundfunk entwickelte dramat. Literaturgattung, die nur auf das Hören zugeschnitten u. durch intimen Charakter, starke Konzentration der Handlung u. geringe Personenzahl gekennzeichnet ist

* * *

Hör|spiel, das:
a) <o. Pl.> an die technischen Möglichkeiten des Rundfunks gebundene, auf das Akustische ausgerichtete dramatische Gattung;
b) Spiel der Gattung Hörspiel (a).

* * *

Hörspiel,
 
für den Rundfunk konzipierte, nur mit akustischen Mitteln arbeitende Kunstform (auch Sende- und Funkspiel, Funk- oder Hördrama, Hörbild u. a.), die im weiteren Sinn auch als Untergattung der Dokumentarliteratur verstanden werden kann. Man unterscheidet heute begrifflich das aus dem Bühnenschauspiel entstandene traditionelle oder literarische Hörspiel, in dem mit den Mitteln der Sprache eine fiktive Welt errichtet wird, vom so genannten »neuen« oder experimentellen Hörspiel, in dem Sprache, Musik, Geräusche als Material für Kompositionen dienen, die nicht mehr figuren- und handlungsbezogen sind, sondern die Sprache und ihre Verwendungsweisen, zum Teil das akustische Material insgesamt zum Thema haben. Wichtigste technische Hilfsmittel sind Montage, Schnitt und Blende.
 
Die Geschichte des Hörspiels beginnt mit Bearbeitungen v. a. von Theaterstücken für den Funk. Die ersten Hörspiele entstanden 1924: »A comedy of danger« von R. A. W. Hughes in Großbritannien, »Maremoto« von P. Cusy und G. Germinet in Frankreich und »Zauberei auf dem Sender« von Hans Georg Flesch (* 1896, ✝ 1945) in Deutschland. Hier waren zunächst F. Bischoff, Hans Bodenstedt (* 1887, ✝ 1958) und v. a. Alfred Braun (* 1888, ✝ 1978) bedeutend, in den frühen 30er-Jahren dann u. a. B. Brecht, J. R. Becher, W. Benjamin, A. Döblin, G. Eich, Ernst Johannsen (* 1898, ✝ 1977), E. Kästner, H. Kasack, H. Kesser, E. Reinacher, Alfred Schirokauer (* 1899, ✝ 1954) und F. Wolf. Zu gleicher Zeit entstanden die ersten Hörspieltheorien von Brecht (»Radiotheorie«, 1927-32), Döblin (»Literatur und Rundfunk«, 1929), R. Kolb (»Das Horoskop des Hörspiels«, 1932) und H. Pongs (»Das Hörspiel«, 1931), wobei die Entwürfe der beiden Letzteren mit ihren Forderungen nach Kollektivität und Aktualität sowie nach »Verinnerlichung« den vereinnahmenden Absichten des Nationalsozialismus nach 1933 besonders entgegenkamen. Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Hörspiel als Propagandainstrument eingesetzt. Durch die Arbeiten von H. Brink wurde die Funkerzählung als stärker sprechtextorientierte, referierende Gattung abgegrenzt. - Nach 1945 entwickelte D. Thomas in Großbritannien mit seinem »long dramatic programme in verse« »Under the Milkwood« (1953; deutsch »Unter dem Milchwald«) eine wegweisende gattungsunabhängige Poetik des Hörspiels, die auch für die bis in die 60er-Jahre prägende Hamburger Hörspieldramaturgie unter Heinz Schwitzke (* 1908, ✝ 1991) mit deren Verständnis des Hörspiels als »Wortkunstwerk« bedeutsam wurde. Mit der Entmaterialisierung der Stimme und den nur als Hilfsmitteln zugelassenen Geräuschen sollte eine »innere Bühne« geschaffen werden. Zentrales dramaturgisches Element war die Blende, die imaginäre Hörräume öffnet und wieder schließt, wodurch das Zusammensetzen verschiedener Raum-Zeit- und Wirklichkeitsebenen möglich wird. Trotz des Anspruchs der Gegenwartsbezogenheit zog sich diese Darstellung oft ins Zeitlos-Allgemeinmenschliche zurück; typisch waren kreisförmige Handlungsverläufe und typisierende Figurenentwürfe. Als bedeutendste Vertreter dieser Zeit gelten G. Eich (»Träume«, 1951), Ilse Aichinger (»Knöpfe«, 1953), L. Ahlsen (»Philemon und Baucis«, 1955), I. Bachmann (»Der gute Gott von Manhattan«, 1958), H. Böll (»Klopfzeichen«, 1960), W. Borchert (»Draußen vor der Tür«, 1947), F. Dürrenmatt (»Die Panne«, 1956), M. Frisch (»Herr Biedermann und die Brandstifter«, 1956), W. Hildesheimer (»Das Opfer Helena«, 1955) und D. Wellershoff (»Der Minotaurus«, 1960). Einflussreich wurden die bereits in den 40er-Jahren begonnenen elektronischen Experimente des »Club d'Essai« in Paris und die Hörspiele der Autoren des französischen Nouveau Roman (M. Butor, »6 810 000 litres d'eau par seconde«; deutsch »6 810 000 Liter Wasser pro Sekunde«). Das Hörspiel in der DDR versuchte die Tradition des sozialistischen Erbes vor 1933 beziehungsweise des Exils wieder aufzunehmen; seit Ende der 60er-Jahre entstand eine stärker realitätsbezogene Form, als deren Autoren sich u. a. W. Kohlhaase, M. Bieler, S. Hermlin, G. Kunert, Heiner Müller, G. Rentzsch, G. Rücker, Rolf Schneider und B. Seeger profilierten. Das »neue Hörspiel« vertraten seit Ende der 60er-Jahre u. a. P. Handke, E. Jandl und F. Mayröcker, F. Mon, H. Heissenbüttel und W. Wondratschek. - Hörcollagen wie die von F. Kriwet (»Apollo Amerika«, 1969), L. Harig (»Staatsbegräbnis«, 1970) und P. Wühr (»Preislied«, 1971) arbeiteten erstmals mit dokumentarischem Tonmaterial, dem Originalton (O-Ton). Mit dem O-Ton sollte v. a. Unmittelbarkeit erzeugt und die Alltagswelt der Hörer in neuer Perspektive erschlossen werden; das den O-Ton aufzeichnende Tonband selbst wird zum Manuskript, was gattungstypologisch eine Annäherung des Hörspiels an das Feature bedeutete. Obwohl sich die Verwendung der Kunstkopfstereophonie nicht durchsetzen konnte, zeigt sich, dass z. B. mit der technisch realisierbaren Simultansendung über mehrere Kanäle oder der Herausbildung des Kurzhörspiels die Entwicklung der Gattung noch nicht abgeschlossen ist. Stilistisch kann sich das Hörspiel sowohl einem perfekten Illusionismus zuwenden als auch der Schaffung völlig abstrakter Sprachgewebe, die ausschließlich musikalischen Gesetzen folgen. In dieser Weise machte J. Cage in seinen nach Zufallsprinzipien komponierten Wort-Klang-Geräusch-Gebilden das Hören selbst zum Thema des Hörspiels. Tendenziell löst sich die audiophone Kunst, die textlose Originaltoncollagen, musikalische und Geräuschkompositionen umfasst, aus der traditionellen Hörspielproduktion. Sprache (fremd- oder mehrsprachig), Geräusche und Musik werden als gleichwertige kompositionelle Elemente der akustischen Realisation eingesetzt und bis zur intermedialen Raum-Klang-Performance geführt, die v. a. durch die Einführung digitaler Speicher- und Montagetechniken möglich wird. Vertreter dieser Richtung sind z. B. R. Döhl (Deutschland), Alvin Curran, Malcolm Goldstein (beide USA), Arsenije Jovanovich (Jugoslawien) und der Klangforscher Pierre Mariétan. — Das deutsche Hörspiel (I. von Kieseritzky, Jürgen Becker, Lothar Trolle, Christian Geissler, F. R. Fries u. a. Autoren) bedient sich in der Gegenwart sowohl konventioneller wie dekonstruktivistische Formprinzipien und wiederholt eingespielte Sprach- und Schallexperimente. Publikumsresonanz erfahren auch Funkbearbeitungen literarischer Vorlagen (»Des Maurens letzter Seufzer«, 1997, nach S. Rushdie), auch Langserien (»Sofies Welt«, 1996, nach J. Gaarder). Insbesondere beim Kinderhörspiel entwickelte sich neben dem Radio als Medium die Hörkassette mit literarischen oder Fernsehadaptionen (z.B. »Benjamin Blümchen«, »Bibi Blocksberg«, »Turtles«, verschiedene Disneyhelden). - Als wichtigster Hörspielpreis in Deutschland gilt der Hörspielpreis der Kriegsblinden. Ein renommierter Preis für akustische Spielformen ist seit 1970 der ursprünglich für Hörspielmusik (akustische Spielformen) ausgeschriebene Karl-Sczuka-Preis geworden; seit 1988 wird der Prix Acustica International für innovative Radiokunst (ursprünglich als Hörspielwettbewerb) vom WDR ausgeschrieben.
 
Literatur:
 
C. Hörburger: Das H. der Weimarer Republik (1975);
 H. P. Priessnitz: Das engl. »radio play« seit 1945 (1978);
 
Hörspiele in der ARD.. ., hg. vom Dt. Rundfunkarchiv (1982 ff., jährl.);
 
Grundzüge der Gesch. des europ. H., hg. v. C. W. Thomsen u. a. (1985);
 E. Breitinger: Rundfunk und H. in den USA, 1930-1950 (1992);
 R. Döhl: Das Neue H. (21992);
 S. Bolik: Das H. in der DDR (1994).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Hörspiel: Stimmen aus dem Äther
 

* * *

Hör|spiel, das: 1. a) <o. Pl.> an die technischen Möglichkeiten des Rundfunks gebundene, auf das Akustische ausgerichtete dramatische Gattung; b) Spiel dieser Gattung: ein zweiteiliges H.; ein H. schreiben, senden. 2. <o. Pl.> Hörspielabteilung: Später sprach ich Nachrichten ... und landete beim H. (Zwerenz, Quadriga 21).

Universal-Lexikon. 2012.