◆ In|dus|tri|a|li|sie|rung 〈f. 20; unz.〉 das Industrialisieren
◆ Die Buchstabenfolge in|dus|tr... kann in Fremdwörtern auch in|dust|r... getrennt werden.
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In|dus|t|ri|a|li|sie|rung, die; -, -en:
das Industrialisieren; das Industrialisiertwerden.
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Industrialisierung,
im engeren Sinn die Ausbreitung der Industrie in einer Volkswirtschaft im Verhältnis besonders zu Handwerk und Landwirtschaft, im weiteren Sinn die Ausbreitung industrieller hochproduktiver Methoden der Fertigung und Leistungserstellung in allen Wirtschaftsbereichen.
Industrialisierung ist ein Prozess, der in der Regel durch drei Faktoren gekennzeichnet ist: langfristiger Anstieg des Anteils des industriellen (gewerblichen) Sektors am Bruttoinlandsprodukt (BIP), Anstieg des Anteils der im industriellen Sektor Beschäftigten, Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens. Der Begriff der Industrialisierung lässt sich mit entsprechender Modifikation der genannten Kriterien nicht nur auf ganze Volkswirtschaften, sondern auch auf Regionen beziehen. Weitere Charakteristika für Industrialisierung sind u. a. Angleichung der Arbeitsproduktivität im landwirtschaftlichen und industriellen Sektor, wachsender Anteil der städtischen Bevölkerung und Zunahme der Investitionsquote. Der Industrialisierungsprozess setzte gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Großbritannien ein und griff Anfang des 19. Jahrhunderts auf Kontinentaleuropa und die Vereinigten Staaten über. Er war u. a. gekennzeichnet durch zunehmende Arbeitsteilung und Spezialisierung, neue kapitalintensive Techniken, Massenproduktion, Rationalisierung (zunächst Mechanisierung, heute Automatisierung) und Anwendung neuer Energiequellen (Kohle, Erdöl, Elektrizität) sowie durch neue Unternehmensformen (Kapitalgesellschaften) und -zusammenschlüsse (Kartelle, Konzentration). Dieser Prozess verlief unter sozialen Krisen und Umwälzungen (industrielle Revolution, soziale Frage).
Traditionell wird die Phase der Industrialisierung als notwendiger Schritt für wirtschaftlichen Wachstum, Fortschritt und Wohlstand aufgefasst. Nur großtechnische, industrielle Produktionsverfahren erlauben es, die Vielzahl der zur Befriedigung der Bedürfnisse notwendigen Güter preiswert und in großer Zahl herzustellen. Wirtschaftspolitisch bedeutet Industrialisierung die gezielte staatliche Förderung des industriellen Wachstums und der Aktivitäten, die zur Weiterentwicklung industrieller Fertigungsmethoden beziehungsweise zu ihrer Ausbreitung beitragen (Industriepolitik, Forschungs- und Technologiepolitik), wobei in den einzelnen Ländern erhebliche Unterschiede im Ausmaß und der Art der staatlichen Interventionen zu verzeichnen sind. Die historische Erfahrung zeigt, dass das Pro-Kopf-Einkommen in der Phase der Industrialisierung beschleunigt wächst, sobald ein gewisser ökonomischer und technologischer Schwellenwert überschritten ist. Mit wachsendem Anteil des in der Industrie erzeugten BIP geht ein relativer Bedeutungsrückgang der Landwirtschaft einher; langfristig tritt allerdings - der Dreisektorenhypothese folgend - der Dienstleistungssektor als der für Beschäftigung und Wertschöpfung relativ wichtigste Bereich der Volkswirtschaft an die Stelle des Sektors Industrie (Dienstleistungsgesellschaft).
Die durch die Industrialisierung bewirkte Änderung der Produktionsstrukturen hat auch tief greifenden Einfluss auf die natürliche Umwelt, die Sozialstrukturen, die Arbeits- und Lebensbedingungen und das Normen- und Wertesystem einer Gesellschaft. An die Stelle relativ statischer, traditionsbestimmter, agrarisch-feudaler, ständischer Gesellschaften tritt die Industriegesellschaft. Umgekehrt ist auch ein entsprechender gesellschaftlicher Wandel nötig, um Industrialisierung zu ermöglichen.
Jede Industrialisierung ist abhängig von Arbeitskräften, die ein Mindestmaß an Kenntnissen und Fähigkeiten im Umgang mit modernen technischen Verfahren besitzen, ferner von Rohstoffen, Kapital und Infrastruktur. Darüber hinaus bedarf es aufnahmebereiter Absatzmärkte. Da selten alle Voraussetzungen erfüllt sind, besteht meist eine Abhängigkeit »junger« Industrieländer (z. B. Schwellenländer) von der Unterstützung »älterer« Industrieländer in Bezug auf Kredite zum Ankauf fehlender Rohstoffe und Investitionsgüter sowie die Entsendung von Fachkräften (Entwicklungshilfe). Die Industrialisierung der Entwicklungsländer ist eine Strategie der Entwicklungspolitik.
Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde im Zusammenhang mit dem Strukturwandel in den neuen Ländern der Begriff Deindustrialisierung geprägt. Er bezieht sich auf den Rückgang der industriellen Aktivität (Konkurse, sinkende Wertschöpfungsanteile, steigende Arbeitslosigkeit), ist aber insofern irreführend, als er streng genommen keine Umkehr des Industrialisierungsprozesses beschreibt. Zurückzuführen war der große strukturelle Anpassungsbedarf v. a. auf die mangelnde internationale Wettbewerbsfähigkeit eines erheblichen Teils der industriellen Struktur, auf den Zusammenbruch der osteuropäischen Absatzmärkte und die rasche Anpassung der Lohn- und Preisstrukturen an das westdeutsche Niveau. Insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit im industriellen Sektor ließ den Ruf nach verstärkter Industriepolitik laut werden, die für die Erhaltung »industrieller Kerne« sowie die Ansiedlung neuer Betriebe sorgen sollte. Schwierigkeiten einer solchen Poilitik liegen u. a. darin, dass die Deindustrialisierung in den neuen Ländern in erheblichem Maße lediglich Ausdruck für einen abrupten Wandel zur Dienstleistungs- beziehungsweise Informationsgesellschaft ist, der im früheren Bundesgebiet und in den westlichen Industriestaaten schon eher eingesetzt hat.
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Merkantilismus und Kameralismus: Der Staat als Unternehmer
Industrialisierung: Anfänge im Zeichen der Dampfkraft
Eisenbahn: Eisenbahnbau im 19. Jahrhundert
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Universal-Lexikon. 2012.