Entwicklungsländer,
zu Beginn der 1950er-Jahre geprägter Begriff für Länder, deren Entwicklungsstand im Vergleich zu dem der Industrieländer niedriger ist. Die Bezeichnung Entwicklungsländer korrespondiert heute mit dem Begriff Dritte Welt. Als Norm gilt dabei v. a. der wirtschaftliche Wohlstand der Industrieländer, der sich besonders im Pro-Kopf-Einkommen (Bruttosozialprodukt je Einwohner) ausdrückt. Eine einheitliche Definition für Entwicklungsländer gibt es allerdings ebenso wenig wie eine international verbindliche Länderliste. Zur genaueren Abgrenzung von Entwicklungsländern und »entwickelten« Ländern können Entwicklungsindikatoren herangezogen werden. Solche Indikatoren sind neben dem Bruttosozialprodukt (BSP) je Einwohner z. B. die Lebenserwartung bei der Geburt, die Kindersterblichkeit, das Bevölkerungswachstum und die Analphabetenquote. Durch unterschiedliche Gewichtung von Entwicklungsindikatoren oder Kriterien von Unterentwicklung gelangen Vereinte Nationen, Weltbank und Development Assistance Committee (DAC) zu unterschiedlich gegliederten Länderlisten. Die Bundesregierung orientiert sich an der Liste des DAC. Demnach zählten 1994 zu den Entwicklungsländern alle Länder Afrikas (außer der Republik Südafrika), alle Länder Amerikas (außer USA und Kanada), alle Länder Asiens und Ozeaniens (außer Japan, Australien und Neuseeland) sowie in Europa Gibraltar, Griechenland, Malta, die Türkei und Zypern sowie ein Teil der Nachfolgestaaten Jugoslawiens und der Sowjetunion. Auf eigenen Wunsch von der DAC-Liste gestrichen wurden (1992) Portugal und die französischen Überseedepartments. Neu aufgenommen wurden Albanien (1989), die zentralasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan (1993) sowie Armenien, Aserbaidschan und Georgien (1994). Slowenien, Kroatien, Makedonien, Rumänien und Moldawien sind bisher nicht offiziell als Entwicklungsländer anerkannt, genießen aber einen entsprechenden Status. Seit 1991 kann die Unterstützung schwarzer Bevölkerungsgruppen in Südafrika als öffentliche Entwicklungshilfe behandelt werden.
Ende 1993 wurde eine Revision der DAC-Liste zum 1. 1. 1996 beschlossen, die eine Untergliederung in zwei Teillisten vorsieht (Teil I: Empfänger offizieller Entwicklungshilfe, Teil II: Empfänger von Leistungen an Übergangsländer). Vorläufiges Kriterium für den Übergang eines Staates von der ersten in die zweite Teilliste ist die Einstufung als Land mit hohem Einkommen durch die Weltbank. Über die Einführung neuer Kriterien für die Einstufung als Entwicklungsländer, z. B. Kaufkraftvergleich und Human Development Index wird diskutiert.
Die Weltbank unterscheidet nach dem Hauptkriterium BSP je Einwohner folgende Ländergruppen: Low income countries (Abkürzung LIC; Entwicklungsländer mit niedrigem Einkommen; BSP je Einwohner maximal 695 US-$ pro Jahr), Middle income countries (Abkürzung MIC; Entwicklungsländer mit mittlerem Einkommen), Entwicklungsländer mit hohem Einkommen (BSP je Einwohner über 8 626 US-$) sowie marktwirtschaftliche Industrieländer. Bei den MIC wird eine untere (BSP je Einwohner 696-2 785 US-$) und eine obere (BSP je Einwohner 2 786-8 625 US-$) Einkommenskategorie unterschieden. 1993 zählten nach dieser Klassifikation 45 Länder zu den LIC, 63 Länder zu den MIC und 6 Staaten galten als Entwicklungsländer mit hohem Einkommen. Die UNO führte (1970) für Entwicklungsländer die Bezeichnung Less developed countries (Abkürzung LDC; wenig entwickelte Länder) ein. Schwellenländer (Newly industrializing countries, Abkürzung NIC) sind jene Entwicklungsländer, von denen angenommen wird, dass ihr Entwicklungsstand so weit fortgeschritten ist, dass sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen Eigendynamik und des exportorientierten Wachstums bei zunehmender Industrialisierung die typischen Merkmale eines Entwicklungslandes selbst überwinden können (u. a. Brasilien, Hongkong, Mexiko, Malaysia, Singapur, Süd-Korea, Taiwan). Kriterien für die Eingruppierung in die Gruppe der Least developed countries (Abkürzung LLDC; am wenigsten entwickelte Länder) waren zunächst: ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner unter (seit 1989) 473 US-$, ein Anteil von höchstens 10 % des BIP an der industriellen Produktion und mehr als 80 % Analphabeten (Bevölkerung über 15 Jahre). 1991 führten die Vereinten Nationen für die Gruppe der LLDC ein neues Klassifizierungssystem ein, das vier neue Kriterien umfasst, um auch langfristige Wachstumshemmnisse aufgrund von Strukturschwächen und einem niedrigen Niveau der Entwicklung menschlicher Ressourcen berücksichtigen zu können: 1) BIP je Einwohner (Durchschnitt aus 3 Jahren weniger als 699 US-$); 2) Index der physischen Lebensqualität (Augmented Physical Quality of Life Index, APQLI), ermittelt aus Lebenserwartung, Kalorienversorgung je Einwohner, Einschulungsrate in Primar- und Sekundarschulen, Anteil der Analphabeten an der erwachsenen Bevölkerung; 3) Index der ökonomischen Diversifikation (Economic Diversification Index, EDI) als Zusammenfassung von Anteil der Industrie am BIP, Beschäftigten in der Industrie, Stromverbrauch je Einwohner, Exportorientierung der Wirtschaft; 4) Einwohnerzahl (maximal 75 Mio. Einwohner). 1994 galten 48 Entwicklungsländer als LLDC (davon in Afrika 34, in Asien und Ozeanien 13).
Nach 1973 (starke Erhöhung der Erdölpreise) hatte die UNO die Kategorie der Most seriously affected countries (Abkürzung MSAC; am schwerwiegendsten betroffene Länder) definiert: niedriges Pro-Kopf-Einkommen, hohe Verschuldung durch scharfen Preisanstieg bei wichtigen Importen, geringe Exporterlöse. 1979 umfasste diese Gruppe 45 Länder. Die Grenzen zwischen LLDC und MSAC sind fließend; die Untergruppen waren v. a. geschaffen worden, um die betroffenen Staaten durch differenzierte Spezialprogramme der UNO fördern zu können.
Weitere Ländergruppen unter geographischen Gesichtspunkten bilden die Entwicklungsländer ohne Zugang zum Meer (Landlocked countries, Abkürzung LLC), durch ihre geographische Lage benachteiligte Inselstaaten sowie die afrikanischen Staaten in der Sahelzone. Als Gruppe der 77 (1994: 131 Mitgliedländer) tritt die Gesamtheit der Entwicklungsländer seit 1967 bei Verhandlungen im Bereich der meisten Organisationen der UNO auf. Eine weitere Gruppe von Entwicklungsländern sind die Erdöl exportierenden Staaten, die zum Teil der Organization of the Petroleum Exporting Countries (OPEC) angehören, ihre Industrialisierung mit den Erlösen aus dem Erdölexport teilweise selbst finanzieren können und teilweise auch ihrerseits Entwicklungshilfe leisten. Mit den EG-Ländern durch die Lomé-Abkommen assoziiert sind Entwicklungsländer in Afrika, dem karibischen und pazifischen Raum (AKP-Staaten).
Zu den gemeinsamen, die Wirtschaft der Entwicklungsländer prägenden Merkmalen zählen v. a. ein hoher Anteil der Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse, die Förderung mineralischer Rohstoffe, geringe Arbeitsproduktivität, verursacht durch mangelnden Kapitaleinsatz und geringes technisches Know-how, hohe Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Energieimporten. Die Position der Entwicklungsländer in der Weltwirtschaft ist entsprechend durch ihre hohe Abhängigkeit von Rohstoffexporten geprägt, die tendenziellen Preissenkungen und damit der Verschlechterung der Terms of Trade sowie der schwankenden Nachfrage der Industrieländer ausgesetzt sind. Zum Ausgleich errichtete Bufferstocks sowie Fonds zur Stabilisierung der Rohstoffpreise sind unterschiedlich erfolgreich. Die mit hohen Auslandsschulden verbundenen Zahlungen für Zins und Tilgung beeinträchtigen die wirtschaftliche Entwicklung vieler Entwicklungsländer, besonders auch der lateinamerikanischen Schwellenländer (Schuldenkrise). Die sozialen Strukturen sind zwar von Land zu Land unterschiedlich, weisen aber gemeinsame Merkmale auf wie ungenügende Versorgung mit Nahrungsmitteln, hohes Bevölkerungswachstum, schlechter Gesundheitszustand, geringe Bildungsmöglichkeiten, niedriger Lebensstandard bei oft sehr ungleicher Verteilung der Einkommen, der vorhandenen Güter und Dienstleistungen. Entwicklungsländer befinden sich trotz der wirtschaftlichen Rückstände gegenüber den Industrieländern in einem Prozess beschleunigten sozialen Wandels, der einerseits als Modernisierungsprozess (z. B. Senkung der Analphabetenquote, Industrialisierung und Verstädterung), andererseits als Prozess der Entkolonialisierung und Gewinnung nationaler Identität und Unabhängigkeit bezeichnet werden kann. (Nord-Süd-Konflikt)
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Entwicklungspolitik: Grundlagen
Weltwirtschaft: Wohlstand und Wirtschaftskrisen (1950-85)
Universal-Lexikon. 2012.