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chemische Waffen
chemische Waffen
 
[ç-], chemische Kampfmittel [ç-], auch C-Waffen, zusammenfassende Bezeichnung für alle Arten von chemischen Kampfstoffen (chemische Kampfstoffe im engeren Sinn, Pflanzen schädigende Stoffe, Brandstoffe, Nebelstoffe) sowie Munition und andere Einsatzmittel, die diese enthalten. - Chemische Kampfstoffe im engeren Sinn (einschließlich der dazugehörenden »Reizstoffe«) sind für den militärischen Einsatz vorgesehene gasförmige, flüssige oder feste Verbindungen, die durch ihre meist starke Gift- oder Reizwirkung einen Gegner töten oder vorübergehend kampfunfähig machen. Sie sind lange Zeit lagerfähig, verhältnismäßig schnell wirkend und in der Regel schwer wahrnehmbar (weitgehende Farb- und Geruchlosigkeit). Chemische Kampfstoffe im engeren Sinn können mithilfe von Bomben, Granaten, Raketen, Abblaseinrichtungen und Aerosolgeneratoren eingesetzt werden.
 
Nach der jeweiligen pharmakologisch-toxikologischen Wirkung unterscheidet man folgende chemische Kampfstoffgruppen: Reizkampfstoffe üben eine starke Reizwirkung auf die Augen (»Tränengase«) und die oberen Atmungsorgane aus; sie wirken nur kurzfristig und hinterlassen keine bleibenden Schädigungen. Zu ihnen gehören die Augenreizstoffe CN und CS. Reizkampfstoffe wurden in Kriegen (z. B. im Ersten Weltkrieg unter der Bezeichnung Weißkreuz und im Vietnamkrieg) und bei Polizeieinsätzen (z. B. in Form der chemischen Keule) vielfach eingesetzt. Ein typischer Nasen-Rachen-Reizstoff ist das Adamsit (Blaukreuz). Als psychotoxische Kampfstoffe wirken LSD oder Benzilsäuresalze des Piperidins und Chinuclidins. Sie wirken ebenfalls nicht tödlich, sondern erzeugen beim Gegner Psychosen, die sich in Halluzinationen und Angstzuständen äußern können. Lungenschädigende chemische Kampfstoffe sind z. B. Chlorgas und Phosgen (Grünkreuz), die beide im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurden. Hautschädigende chemische Kampfstoffe wie Lost (Yperit, Senfgas, Gelbkreuz) und Lewisit erzeugen auf der Haut schwer heilende Wunden. Nervenschädigende chemische Kampfstoffe (»Nervengase«) wurden in den 1930er-Jahren entwickelt. Es handelt sich meist um Phosphorsäureester, die, inhaliert oder durch die Haut aufgenommen, das für die Nervenleitung wichtige Enzym Acetylcholinesterase hemmen. Die Vergiftung äußert sich in Lähmungen und Muskelkrämpfen und kann durch Versagen der Atmung nach Minuten, aber auch erst nach Stunden zum Tode führen. Als Gegenmittel wirkt die Injektion von Atropin und Pralidoximjodidischer Typ. Vertreter dieser Gruppe sind Sarin, Soman, Tabun und VX.
 
Zur Bewertung der Giftigkeit dient das Produkt aus Konzentration (in mg/m3) und Einwirkungsdauer (in Minuten) auf ein Versuchstier bei tödlichem Ausgang (»Tödlichkeitsprodukt«). Die Werte liegen für Phosgen bei 5 000, für Sarin bei 250 und für VX bei 1. Die Verdampfungsgeschwindigkeit eines chemischen Kampfstoffes im Vergleich zu Wasser ergibt dessen »Sesshaftigkeit«. Stoffe mit einem Siedepunkt über etwa 200 ºC haben hohe Sesshaftigkeit, d. h., ihre Wirkung bleibt mehrere Tage erhalten.
 
Geschichte und internationale Abkommen:
 
Bereits in der Haager Landkriegsordnung von 1907 wurde ein Verbot von Gift und Gas in Kriegen ausgesprochen, nachdem die Engländer im Burenkrieg das großflächige Ausschwefeln angewendet hatten. 1912 brachte das französische Militär chemische Waffen zur Einsatzreife: eine Gasgewehrgranate mit Bromessigesterfüllung; 30 000 dieser Granaten wurden nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs eingesetzt. Nachdem Ende 1914/Anfang1915 der Einsatz weiterer Reizstoffe (Xylylbromid, Dianisidinsalz, Bromaceton auf deutsch, Chloraceton auf französischer Seite) nicht den beabsichtigten Erfolg gebracht hatte, kam es zum Masseneinsatz von Giftstoffen. 1915 erfolgte bei Ypern der erste größere Einsatz chemischer Kampfstoffe (Chlorgas) durch deutsche Truppen. Der Gaskrieg erreichte bis zum Ende des Krieges eine steigende Bedeutung, auch wenn gegen immer wieder neu entwickelte Kampfstoffe (Blaukreuz, Gelbkreuz, Grünkreuz) stets neue Schutzmaßnahmen (v. a. der jeweiligen Bedrohung angepasste beziehungsweise verbesserte »Gasmasken«) angewendet wurden. Einsatzmittel waren Spezialbehälter, aus denen das Gas abgeblasen wurde, und Granaten, die mit herkömmlichen Artilleriegeschützen und »Gaswerfern« verfeuert werden konnten.
 
Zwischen den beiden Weltkriegen wurde die Kampfführung mit Giftgasen wiederholt geächtet, so v. a. im Genfer Protokoll vom 17. 6. 1925, das vom Deutschen Reich 1929 ratifiziert wurde. Trotz dieses völkerrechtlichen Verbots setzten Italien (1935/36 in Abessinien) und Japan (1937-45 in China) chemische Waffen ein. Im Zweiten Weltkrieg wurden keine chemische Kampfstoffe eingesetzt, obwohl vor und während des Krieges große Mengen (u. a. auch neu entwickelte Nervenkampfstoffe) hergestellt und eingelagert worden waren; Hauptgrund für den Verzicht auf einen Einsatz war die auf beiden Seiten verbreitete Gewissheit, damit einen mindestens ebenso starken Gegenschlag zu provozieren.
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg forcierten die UdSSR und die USA die Entwicklung und Herstellung chemischer Waffen. Die Amerikaner, die in den 60er-Jahren im Vietnamkrieg u. a. Pflanzen schädigende Mittel zur Entlaubung von Wäldern und zur gezielten Erntevernichtung eingesetzt hatten, stellten zu Anfang der 70er-Jahre die Produktion von chemischen Waffen ein, nahmen ab Mitte der 80er-Jahre jedoch die Forschung in diesem Bereich wieder auf. Der Ersatz der früher produzierten und weiterhin gelagerten Kampfstoffe durch neuartige binäre Kampfstoffe (binäre Munition) wurde von den USA und der NATO als notwendig angesehen, da die UdSSR die chemische Kriegführung unverändert als Teil der konventionellen Kriegführung betrachtete. Der Einsatz von chemischen Waffen durch die UdSSR in Afghanistan kann als gesichert angesehen werden. Auch Irak verwendete aller Wahrscheinlichkeit nach chemische Kampfstoffe im Krieg gegen Iran (Golfkrieg).
 
Begrenzung, Abbau und Kontrolle von chemischen Waffen war u. a. Gegenstand der Genfer Abrüstungskonferenz. Erste Gespräche dazu begannen 1968, direkte Verhandlungen 1983, die schließlich nach Abschluss des amerikanisch-sowjetischen Abkommens zur Produktionseinstellung und Beseitigung von chemischen Waffen (Juni 1990) im Januar 1993 zur Unterzeichnung des C-Waffen-Abkommens führten.
 
Die Bundesrepublik Deutschland hat in den Pariser Verträgen 1954 freiwillig und einseitig u. a. auf Herstellung, Lagerung und Einsatz chemischer Kampfstoffe verzichtet. Die hier gelagerten amerikanischen chemischen Waffen wurden Mitte 1990 abgezogen.
 
Literatur:
 
Chem. Kriegführung - chem. Abrüstung, hg. v. H. G. Brauch u. Rolf-Dieter Müller, Bd. 1: Dokumente aus dt. u. amerikan. Archiven (1985).

Universal-Lexikon. 2012.