Die Ärzte
Frischer Wind im Kreuzberger Untergrund
1980, als der in England längst schon in der New Wave aufgegangene Punkrock sich auch im deutschen Untergrund fest etabliert hatte, lernten sich im Berliner Punk-Treffpunkt »Ballhaus Spandau« beim Pogotanzen - dabei springen die Tänzer zu Punkmusik in die Höhe - zwei junge Männer kennen, die deutsche Musikgeschichte schreiben sollten. Schlagzeuger Bela B. (Dirk Felsenheimer; * 14. 12. 1964 in Berlin), dessen Pseudonym als Hommage an den ungarischen Horrorfilmschauspieler Bela Lugosi gedacht war, und der singende Gitarrist Farin Urlaub (Jan Vetter-Marciniak; * 27. 10. 1964 in Berlin) fühlten sich nicht nur den Werten des Punk verpflichtet (Chaos, Spaß, gefärbte Haare, ausgefallene Kleidung und Accessoires), ihnen wurde auch zunehmend klar, dass in der Heimat - im Zuge der aufkommenden Neuen Deutschen Welle - mit deutsch gesungenen Liedern am ehesten etwas erreicht werden konnte. Bela stieg in Farins Band »Soilent Grün« ein, die jedoch außerhalb der Szene keinen Erfolg hatte und 1982 im Berliner Klub »SO 36« ihr letztes Konzert gab. Im gleichen Jahr gründeten die beiden gemeinsam mit dem Bassisten Sahnie (Hans Runge; * 12. 6. 1964 in Hameln) die Gruppe »Die+Ärzte« und gaben ihr erstes Konzert in einem besetzten Haus (das Kreuz, das anfangs noch zum Bandnamen gehörte, musste wenig später aufgrund von Protesten des Deutschen Roten Kreuzes gestrichen werden).
Bald war die junge Band, die für frischen Wind im Kreuzberger Underground sorgte, in eben diesem bekannt und gern gesehen, und im Frühjahr 1983 erschienen ihre ersten eigenen, ironischen, Alltagsprobleme beinahe aus kindlicher Sicht behandelnden Lieder auf dem Sampler »Ein Vollrausch in Stereo - 20 schäumende Stimmungshits« des unabhängigen Kleinlabels »Vielklang«, zu dem auch junge Punkbands wie die Toten Hosen Beiträge geliefert hatten. Nachdem wenig später beim gleichen Label ihre erste »eigene« Platte, die Maxisingle »Zu schön, um wahr zu sein«, sowie 1984 ihre Mini-LP »Uns geht's prima«, wochenlang Spitzenreiter der Independent-Charts, erschienen waren, machten Die Ärzte einen großen Sprung nach vorne, als sie beim Nachwuchswettbewerb des Berliner Senats den Sieg davontrugen. Live ging es bei ihnen seit jeher vehement zur Sache, und sie heimsten nun nicht nur 10 000 DM Prämie ein, sondern weckten auch das Interesse der Musikindustrie. Nach einem Vertragsabschluss mit der Major-Firma CBS (bald zu Sony gehörend) erschien die erste LP »Debil«.
Mit Punkpop in die deutsche Hitparade
Musikalisch hatte sich die Gruppe stetig weg vom echten Punkrock hin zu einer fröhlich-poppig-deutschen Variante bewegt, die mit provokanten, oft auch banalen Texten zwar immer noch lärmig und launig, aber keineswegs düster und aggressiv war, was dazu führte, dass Die Ärzte sowohl bei der Musikpresse als auch einem immer größer werdenden Publikum zur »kultigsten« und somit »angesagtesten« Popband Deutschlands avancierten. Diesem Umstand Rechnung tragend, wurde 1985 um die Gruppe herum (und mit weiteren Künstlern wie Nena, Plan B sowie den Notorischen Reflexen) der fiktive Musikfilm »Richy Guitar« gedreht - ein Stück Öffentlichkeitsarbeit, das der Gruppe heute etwas peinlich ist. Doch im Anschluss an die Filmarbeit schaffte die Gruppe, die sich nun als »beste Band der Welt« bezeichnete, mit ihrem nächsten Tonträger, der LP »Im Schatten der Ärzte«, Ende 1985 erstmals den Sprung in die deutsche Hitparade (Platz 53). Ausgiebige Tourneen und medienträchtiges Gebaren sorgten dafür, dass immer größere Bevölkerungsteile Deutschlands von der Band Notiz nahmen, doch als sich bereits abzeichnete, dass der nationale Durchbruch nur mehr eine Frage der Zeit war, trennten sich Bela B. und Farin Mitte 1986 von ihrem Bassisten. Sahnie fühlte sich sehr viel mehr zu einem »bürgerlichen« Leben hingezogen als seine beiden Kompagnons, kümmerte sich um sein Studium der Betriebswirtschaft und wurde mit 10 000 DM abgefunden (seinem Soloprojekt »Er(z)ste Sahne«, das 1989 versuchte, von der mittlerweile grassierenden Ärzte-Begeisterung zu profitieren, war kein nennenswerter Erfolg beschieden). Der schwarzhaarige Bela und der blonde Farin machten, nun im Duo, ihre nächste Platte namens »Die Ärzte«, eine überkandidelte und schlagzeilenträchtige Angelegenheit. Der darin enthaltene Song »Geschwisterliebe« erregte 1987 das Interesse der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, was dazu führte, dass sowohl die LP »Die Ärzte« als auch die Vorgängerin »Debil« indiziert wurden, somit nicht mehr beworben und nur an volljährige Personen verkauft werden durften. Was Die Ärzte schon lange wussten, zeigte sich auch jetzt: Skandale sind die beste Reklame, mögen auch die Plattenumsätze eine Zeit lang leiden. Als Reaktion auf die »Zensur« veröffentlichten Farin und Bela 1987 zwei Kompilationen: die frei verkäufliche LP »Ist das alles? - 13 Höhepunkte mit den Ärzten«, welche »unbedenkliche« Songs und den Singlehit »Geh'n wie ein Ägypter« (die deutsche Version des Hits »Walk like an Egyptian« der amerikanischen Girl-Band »The Bangles«) enthielt und auf Platz 22 der Hitparade schnellte, sowie die Mini-LP »Ab 18«, die sämtliche indizierten Songs versammelte und dementsprechend nur unter dem Ladentisch gehandelt wurde.
Seit dem Herbst 1986 hatte der Bassist Hagen Liebing (* 18. 2. oder 12. 1961 in Berlin) bei Liveauftritten die Gruppe unterstützt, die im Herbst 1987 - nun als eingeschworenes Trio - eine ausgedehnte Deutschlandtournee absolvierte, in deren Verlauf der Gesang bei dem verbotenen Lied »Geschwisterliebe« bereitwillig vom Publikum übernommen wurde und ein TV-Auftritt für einen weiteren, selbstverständlich vorsätzlich angezettelten Skandal sorgte. Im Rahmen der Konzertübertragung »Live aus dem Alabama« kommentierte oder besser: verunglimpfte die Gruppe den wenige Tage zuvor verstorbenen Uwe Barschel, was den Bayerischen Rundfunk zu einer offiziellen Entschuldigung nötigte; die Musiker wurden daraufhin boykottiert. Im April 1988 begaben sie sich erneut auf eine große Deutschlandtournee, in deren Verlauf sie bei 66 Auftritten vor über 100 000 Menschen auch Material aus ihrer jüngsten LP »Das ist nicht die ganze Wahrheit« vorstellten. Die Platte war aufwendig produziert, viel weniger pubertär als alles bis dahin Dagewesene, enthielt mit »Westerland« einen der bis heute beständigsten Erfolgsgaranten der Gruppe und erreichte dementsprechend Platz 6 der deutschen Hitparade. Die im Verlauf der Tour immer mehr zunehmenden Trennungsgerüchte erhärteten sich, und am 9. Juli 1988 gaben die drei Musiker ihr (vorläufiges) Abschiedskonzert in Westerland auf Sylt, wobei sie verkündeten, nie mehr gemeinsam unter dem Namen »Die Ärzte« auftreten zu wollen.
Der Grund für die Trennung war, wie später zugegeben wurde, eine tief greifende Schaffenskrise der Musiker, die sie dadurch zu überwinden suchten, dass jeder für sich seinen Interessen nachging. Hagen Liebing widmete sich seiner Karriere als Journalist, Farin Urlaub gründete die Gruppe »King Kong«, mit der er zwischen 1990 und 1992 drei englischsprachige Alben veröffentlichte, und Bela nahm mit der Gruppe »Depp Jones« (bestehend aus Berliner Musikern, unter anderem von den ehemaligen »Rainbirds«) zwei ebenfalls englischsprachige Alben auf (außerdem engagierte er sich als Produzent und bei diversen Kleinprojekten). Diese Versuche, »seriös« und erwachsen zu werden und »ganz normale Rockmusik zu machen« (Farin Urlaub), waren jedoch weder kurz- noch langfristig von Erfolg gezeichnet - die Popularität der Ärzte mit ihren Punkschlagern war ungebrochen, und ihr Publikum wollte sie einfach nicht gehen lassen. Monate nach der Auflösung stürmte im November 1988 das während der Abschiedstournee entstandene Dreifachalbum »Nach uns die Sintflut« die Hitparade und setzte sich an der Spitzenposition fest. Auch das Kaufvideo »Die beste Band der Welt (... und zwar live!)« wurde im Herbst 1988, ebenso wie der anknüpfende zweite Teil im Folgejahr, ein Verkaufsschlager. Im Frühjahr 1989 avancierte »Bitte, bitte«, die letzte Singleauskopplung aus »Das ist nicht die ganze Wahrheit«, auch aufgrund des anstößigen Videos mit der Porno-Queen Teresa Orlowski als Domina zum Hit.
Neuanfang und Riesenerfolg
Die Wiedervereinigung ließ bis 1993 auf sich warten. Dann allerdings ging es zur Sache. Im Verbund mit Rod (Rodrigo Gonzales; * 19. 5. 1968 in Valparaíso, Chile), der sich bereits bei »King Kong« bewährt hatte und nun den Basspart übernahm, gaben Bela B. und Farin eine Zeitungsannonce auf (»Beste Band der Welt sucht Plattenfirma«). »Metronome Records« wurde daraufhin Vertragspartner der Ärzte, und nach der antifaschistischen Single »Schrei nach Liebe« erschien im Oktober 1993 mit »Die Bestie in Menschengestalt« das erste Album der neuen Schaffensphase, das bedeutend härter klang als das alte Material, dabei in kommerzieller Hinsicht aber alles bislang Dagewesene deutlich in den Schatten stellte. Abertausende neu gewonnener Fans wurden Anfang 1994 in Form des Samplers »Das Beste von kurz nach früher bis jetze« mit der bisherigen Arbeit der Gruppe vertraut gemacht, und nach ausgiebigen Tourneen mit Konzerten vor ausverkauften Häusern (oft mehrere Abende nacheinander am selben Ort) landeten Die Ärzte 1995, nachdem die Maxisingle »1, 2, 3, 4 - Bullenstaat« nur bei Konzerten verkauft wurde, mit ihrem nächsten Album »Planet Punk« einen weiteren Riesenerfolg (Platz 2 der Hitparade). Eher konzeptionell orientiert, setzten sie ihre Arbeit 1996 mit »Le Frisur« fort, einem Konzeptalbum, das sich ausschließlich dem Thema Haare widmete. Irritierte dieses Werk die Kritiker, begeisterte es ob seiner Vielfältigkeit und Originalität doch die treuen Fans, und mit der Auskopplung »3-Tage-Bart« hatten Die Ärzte wieder einmal einen Mitsinghit. Ihren triumphalen Einzug in den deutschen Pophimmel feierten Die Ärzte allerdings erst 1998 mit ihrem Superhit »Männer sind Schweine« aus dem einigermaßen anspruchsvollen und musikalisch einfallsreichen Album »13«. Die Single, begleitet von dem aufwendig produzierten Video, in dem Lara Croft, die virtuelle Traumfrau der 90er-Jahre, auftrat, kletterte auf Platz 1 der deutschen Hitparade und etablierte die ehemaligen Anarcho-Punks fest und endgültig im »seriösen« bundesrepublikanischen Showgeschäft. Nach vielen weiteren Konzerten in kleinen Hallen und bei Open Airs erschien Ende 1999 die Doppel-CD »Wir wollen nur deine Seele«, die einen 190-minütigen Konzertmitschnitt mit neuem und altem Material präsentierte und bewies, dass Die Ärzte die »witzigste Band Deutschlands« (Rolling Stone) sind. Jenseits jeglicher professionellen Witzigkeit bewegte sich Bela B., der als ernst zu nehmender Schauspieler in dem im März 2000 angelaufenen Kinothriller »Kaliber Deluxe« debütierte und drei Songs zum Filmsoundtrack beisteuerte. Im gleichen Jahr kam die CD »Runter mit den Spendierhosen - Unsichtbarer« heraus mit dem provozierenden Titel »Manchmal haben Frauen« (ein kleines bisschen Haue gern) - gedacht als Fortsetzung von »Männer sind Schweine«. Im September 2001 dann ein Wechsel des Mediums: das offizielle »Buch zur Band« mit dem rätselhaft-ulkigen Titel »Ein überdimensionales Meerschweinchen frisst die Erde auf«.
Universal-Lexikon. 2012.