Akademik

Musikindustrie
Mu|sik|in|dus|t|rie, die:
Gesamtheit von Unternehmen, die sich mit der Produktion und Vermarktung von Musik befassen.

* * *

Musikindustrie,
 
Gesamtzusammenhang der Herstellung und Verwertung von Musik nach den Gesetzen industrieller Massenproduktion. Voraussetzung dafür war die schon im 19. Jahrhundert erfolgte Umwandlung von Musik in eine Ware, die in der Verbindung des Kapitals eines »Musikunternehmers« (Verleger, Konzertagent usw.) mit der Arbeitskraft des Musikers (beziehungsweise Komponisten) Musik zu einem Mittel der kapitalistischen Mehrwertproduktion werden ließ. In den USA ist auf dieser Basis im Musikverlagswesen bereits um die Jahrhundertwende die industrielle Produktion von Musik als Notendruck in Gang gekommen (Tin Pan Alley). Mit der Erfindung der Schallplatte wurde es schließlich möglich, Musik auch in klingender Form durch ihre Bindung an den Tonträger industriell herzustellen. Das führte zunächst in Form von Schallplattenfirmen zur Herausbildung von auf Musik ausgerichteten Industriebetrieben, die in Deutschland schon 1924, gemessen am Gesamtumsatzvolumen, den vierten Platz unter insgesamt vierundvierzig Industriezweigen einnahmen. 1929, zu Beginn der Weltwirtschaftskrise, wurden in Deutschland jährlich 30 Millionen, in den USA 80 Millionen und in Großbritannien 120 Millionen Schallplatten hergestellt. Zentralisations- und Konzentrationsprozesse sowohl in vertikaler Richtung — die Ausweitung der Plattenfirmen auf die Vertriebswege bis zum Einzelhandel mit firmeneigenen Ladenketten sowie ihre Fusionierung untereinander — als auch in horizontaler Richtung — ihre Verbindung mit ähnlich gelagerten Industriezweigen wie Film, Fernsehen, Radio, Verlagswesen, Phonoindustrie, Musikinstrumentenherstellung — haben nach dem Zweiten Weltkrieg transnationale Medienkonzerne entstehen lassen, hinter denen nicht selten völlig musikfremde Kapitaleigner stehen. Die Tonträgerabteilungen sind hier nur noch ein Teilbereich der in die internationale Kommunikationsindustrie integrierten Aktivitäten solcher Firmengruppen. Der 1996 insgesamt rund 5 Milliarden verkaufter Tonträger (Schallplatten, Compact Discs und bespielte Kassetten) im Gesamtwert von 43 Milliarden US$ umfassende Welttonträgermarkt wird von nur sechs solcher transnationalen Medienkonglomerate (Majors) beherrscht:
 
Warner Music Group (Muttergesellschaft Time-Warner, USA),
 
Sony Music Entertainment (Muttergesellschaft Sony, Japan)
 
EMI/Virgin (Muttergesellschaft Thorn, Großbritannien),
 
PolyGram (Muttergesellschaft Philips, Niederlande),
 
BMG (Bertelsmann Music Group, Muttergesellschaft Bertelsmann, Deutschland),
 
MCA (Music Corporation of America, Muttergesellschaft Seagram, USA).
 
Zusammen kontrollieren sie weltweit 86 % des internationalen Musikmarktes, haben aber in vielen westeuropäischen und skandinavischen Ländern einen sogar noch höheren Marktanteil, in Dänemark 1994 beispielsweise 99 %. Nahezu undurchschaubar ist das Netzwerk an Kapitalverflechtungen, das hinter ihnen steht, zumal es weit über den Musikbereich hinausgeht, aber selbst hier hinter der Vielzahl von Labels und Querverbindungen durch Vertriebsabkommen verborgen ist.
 
Symptomatisch dafür ist der spektakuläre Aufstieg der erst 1972 gebildeten PolyGram-Gruppe. Sie entstand aus einer Fusion der Schallplattenfirma Phonogram (früher Philips), eines Zweigbetriebes des niederländischen Philips-Konzerns, der zuvor schon die in Holland ansässige Filiale der britischen Schallplattengesellschaft Decca übernommen hatte, mit Polydor in der Bundesrepublik Deutschland, dem für die populäre Musik zuständige Teilunternehmen der Deutschen Grammophon Gesellschaft (DGG), die zur Gruppe der Siemens Elektro AG gehört. Phonogram brachte in diese Fusion zusätzlich noch ein Vertriebsabkommen mit der CBS ein. PolyGram übernahm dann nacheinander die Mercury Records (USA), MGM (Metro-Goldwyn-Mayer, USA, die Schallplattenabteilung der Filmgesellschaft gleichen Namens), ferner die RSO (Robert Stigwood Organisation, USA), Barclay (Frankreich) und 1980 schließlich die britische Decca, die zuvor jedoch schon mit der Schallplattenabteilung des deutschen Telefunken-Konzerns zur Teldec fusioniert war. In knapp zehn Jahren war PolyGram damit zu einem der drei größten Tonträgerproduzenten auf der Welt geworden. Als sie 1979 mit der Compact Disc (CD) auf den Markt kam, waren dem auf einer anderen Ebene der PolyGram-Gruppe entsprechende Aktivitäten vorausgegangen, die das Zusammenspiel der einzelnen Unternehmensbestandteile in solchen Medienkonglomeraten anschaulich werden lassen: Die dazu notwendigen Abspielgeräte hatte nämlich die Phonoabteilung des Philips-Konzerns, der mit seinem früheren Phonogram-Unternehmen ja eine Säule der PolyGram-Gruppe darstellt, in Kooperation mit Sony in Japan entwickelt, über die Texas Instruments aus den USA, Toshiba und Matsushita aus Japan an der Herstellung dieser Geräte beteiligt sind.
 
Ganz ähnlich vollzog sich auch die Entwicklung der anderen fünf Unternehmensgruppen, nur dass deren Aktivitäten einen noch größeren Bereich abdecken. Zu Time-Warner gehören beispielsweise vier unterschiedliche Firmengruppen im Medienbereich: 1. die Musikabteilung mit Verlagen, darunter Harms, Witmark und Remick's als den ältesten Bestandteilen des Unternehmens, mit Kassettenproduktion und den Schallplattenlabels Warner Bros., Reprise, Atlantic, Elektra/Asylum und WEA International als Auslandsunternehmen sowie einer Vielzahl von Sublabels; 2. die Filmabteilung mit der Filmgesellschaft Warner Brothers und Fernsehen; 3. die Verlagsabteilung mit Time an der Spitze, dem des Unternehmen seit 1989 auch gehört, Warner Books, Comics, Zeitschriften und Lehrmaterialien; sowie 4. die Kommunikationsabteilung mit Kabelfernsehen, Video- und Telekommunikation. Die Musikindustrie ist damit lediglich ein Teilbereich von weit über sie hinausgehenden Zusammenhängen, der losgelöst von diesen weder betrachtet werden noch funktionieren kann. Ihre Aktivitäten sind immer dem ökonomischen Interesse der jeweiligen Gesamtorganisation unterworfen. Mit ihrer marktbeherrschenden Position und der enormen Kapitalkraft diktieren diese großen Medienorganisationen auch den vielen selbstständigen Plattenfirmen (Indie), die die andere Seite der Musikindustrie ausmachen — in den USA 1994 mehr als 6000 —, die Bedingungen. Nicht nur, dass diese damit Marktstrukturen vorfinden, in die sie sich einfügen müssen, da zu deren Veränderung ihnen die ökonomische Basis fehlt, sie befinden sich mit dem Vertrieb ihrer Platten auch in unmittelbarer Abhängigkeit von den Großen. Die dem hohen Konzentrationsgrad innewohnenden Zwänge schlagen so auf das Gesamtsystem der Musikindustrie durch. Im Einzelnen heißt das: 1. eine wachsende Tendenz zur musikalischen Nivellierung auf vorgegebene Marktkategorien zur Vermeidung von kommerziellen Risiken, 2. die Erhöhung der Amortisationsmarke mit dem Zwang zu entsprechender Auflagenhöhe der Platten, also ein Produktionskonzept, das nach dem musikalisch kleinsten gemeinsamen Nenner einer möglichst großen Zahl potenzieller Käufer sucht, und 3. mit der sich als Folge wachsender Kapitalkonzentration zugleich verschärfenden Konkurrenz auch ein wachsender Innovationszwang, der nicht mehr nur das Musizieren mit immer wieder neuen Modewellen, sondern zugleich auch seine technischen Bedingungen (die aufnahme- und klangtechnischen Grundlagen) umfasst. Die darin liegende Reduktion der Möglichkeiten des Musizierens hat andererseits immer wieder kleineren, auf bestimmte Musikrichtungen spezialisierten Unternehmen einen Entwicklungsspielraum gelassen, der mit wachsendem Organisationsgrad der Musikindustrie und damit der Verfestigung ihrer immanenten Zwänge sogar größer wird. Sie vermögen auch ökonomisch bis zu einem gewissen Grade unabhängig zu existieren, sofern sie sich musikalisch in den Lücken bewegen, die die Musikindustrie lassen muss, weil ihr Apparat zu groß dafür geworden ist und die hier erreichbaren maximalen Auflagenhöhen für sie einfach unrentabel sind.

Universal-Lexikon. 2012.