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politische Bildung
politische Bildung,
 
im weiteren Sinn alle Bildungsprozesse, in denen Heranwachsende und Erwachsene Spielregeln und Wertvorstellungen demokratischer Gesellschaften übernehmen, im engeren Sinn der Teil der politischen Sozialisation, der im Rahmen gesellschaftlicher Institutionen (Schulen, Hochschulen, Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Jugendverbände u. a.) vermittelt wird mit dem Ziel, die Voraussetzungen für Verständnis und aktive politische Teilnahme am gesellschaftlich-politischen Leben der Demokratie zu schaffen. Bei totalitären Staaten spricht man von politischer Schulung, die Instrument systemkonformer Erziehung ist. - Die Institutionalisierung von politischer Bildung steht im Zusammenhang mit der Modernisierung und Demokratisierung der Industriegesellschaften, in Deutschland war sie erstmals in der Weimarer Republik ein eigenständiger Lehrbereich. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen starke Anstöße zur politischen Bildung durch die westlichen Demokratien (Reeducation).
 
Das Schulfach zur politischen Bildung trägt heute in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedliche Bezeichnungen: Gemeinschaftskunde, Sozialkunde, Gesellschaftslehre, Politik, Wirtschaft/Politik, Politikunterricht (in der gymnasialen Oberstufe ist politische Bildung Teil des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenbereichs), in der Schweiz wird der früher auch in Deutschland übliche Begriff Staatsbürgerkunde verwendet, auch in Österreich, wo daneben politische Bildung ein Wahlfach der Oberstufen ist. Innerhalb der Vorgaben von Grundgesetz und Länderverfassungen ist die Diskussion um eine angemessene didaktische Konzeption der politischen Bildung und ihrer Ziele breit und kontrovers geführt worden und zeigt auch heute ein zum Teil polarisiertes Nebeneinander. Wegweisend war das von H. Giesecke 1965 in die theoretische Begründung der politischen Bildung eingeführte »Konfliktmodell« einer freien öffentlichen Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Gruppierungen der pluralistischen Gesellschaft. Dabei geht er von der Annahme eines harmonischen Interessenausgleiches aus, weshalb er als Ziel politischer Bildung die Befähigung zur Parteinahme in den (nicht von vornherein entschiedenen) Prozessen politischer Willensbildung ansieht. Stärker an der kritischen Theorie der Frankfurter Schule orientiert sind Konzepte der politischen Bildung, bei denen im Hinblick auf freiheitlichen Veränderungen die ideologiekritische Analyse von Manipulationsmechanismen und Herrschaftsstrukturen, die Erhellung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen privaten Problemen und gesellschaftlichen Widersprüchen sowie emanzipatorische Lernziele wie die Befähigung zur Artikulation der eigenen Interessen im Vordergrund stehen. Andere Stimmen setzen den Schwerpunkt politischer Bildung auf die Informationen über den demokratischen Staat, seine Ordnung und Grundwerte. - Die Effektivität von politischer Bildung in der Schule in Anbetracht starker außerschulischer Einflüsse ist umstritten. Didaktische Konsequenzen sind schülerzentriertes und situationsorientiertes, pädagogisch behutsames Aufdecken eigener subjektiver Betroffenheit von Politik, Rollen- und Planspiele, Projekte und Aktionsgruppen (»forschendes Lernen«), internationalen Begegnungen.
 
Literatur:
 
B. Claussen: Didaktik u. Sozialwiss. Beitr. zur p. B. (1987);
 
Hb. zur p. B., hg. v. W. D. Mickel u. a. (1988);
 
Hb. zur polit. Erwachsenenbildung, hg. v. A. Kaiser (1989);
 C. Solzbacher: P. B. im pluralist. Rechtsstaat (1994).

Universal-Lexikon. 2012.