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Gewerkschaften
Gewerkschaften,
 
Organisationen lohn- oder gehaltsabhängiger Arbeitnehmer, die das Ziel einer bestmöglichen Interessenvertretung ihrer Mitglieder in allen Bereichen der Gesellschaft verfolgen, v. a. auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet. In Wirtschaftssystemen, die demokratisch verfasst und - auf dem Prinzip des Privateigentums an den Produktionsmitteln aufbauend - marktwirtschaftlich strukturiert sind, treten die Gewerkschaften als unabhängige Arbeitnehmerorganisationen in Erscheinung; dabei bedeutet Unabhängigkeit v. a. die freie Wahl der zur Erreichung der Ziele für angemessen erkannten Mittel auf der Grundlage rechtsstaatlich und verfassungsrechtlich garantierter und in der Gesellschaft akzeptierter Formen politischer Entscheidungsbildung. Dieses setzt die Unabhängigkeit von staatlichen Eingriffen, von direkten Bindungen an politische Parteien und somit von deren Beschlüssen sowie von Unternehmen (Arbeitgebern) voraus; im Selbstverständnis dieser Organisationen bedeutet Unabhängigkeit nicht politische Neutralität. Um bestehen und wirksam agieren zu können, bedürfen unabhängige Gewerkschaften eines Mindestmaßes an politischer Bewegungsfreiheit, die besonders auf Versammlungs-, Vereins- und Koalitionsfreiheit beruht. Während die unabhängigen Gewerkschaften den Streik als Kampfmittel bejahen, lehnen ihn die »wirtschaftsfriedlichen«, »gelben« Gewerkschaften ab. Die häufig von Arbeitgebern gegründeten »gelben« Gewerkschaften suchen mit dem Verzicht auf das Streikrecht den Arbeitsfrieden zu wahren. Gewerkschaften in kommunistischen Staaten setzen im Sinne der Prinzipien des demokratischen Zentralismus die maßgeblichen Beschlüsse der jeweiligen kommunistischen Partei auf betriebs- und sozialpolitischem Gebiet in die Praxis um; als »Transmissionsriemen der Partei« verzichten sie dabei auf das Streikrecht. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatensystems ist deren Einfluss nur noch auf wenige Länder beschränkt.
 
 Geschichte
 
Gewerkschaftliche Bestrebungen hat es immer schon überall dort gegeben, wo Privatbesitz an Produktionsmitteln und lohnabhängige Erwerbsarbeit unter tendenziell marktwirtschaftlichen Beziehungen einander ergänzten, so z. B. in den spätmittelalterlichen Zunftkämpfen (Gesellenbruderschaften). Die flächendeckende Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise im Zuge der Industrialisierung, in Großbritannien seit Ende des 18. Jahrhunderts, machte die Gewerkschaften in einem oftmals länger als ein Jahrhundert währenden Prozess zu gesellschaftlichen Ordnungsfaktoren. Als solche tragen sie, zusammen mit den Arbeitgeberverbänden als Kontrahenten in der Regelung des grundlegenden Konflikts zwischen Kapital und Arbeit, maßgeblich zur Sicherung des sozialen Friedens bei.
 
Mit der Industrialisierung setzte die Gewerkschaftsbildung gegen Ende des 18. Jahrhunderts zuerst in Großbritannien ein. Sowohl dort als auch in Deutschland, wo frühe gewerkschaftliche Berufsverbände (Buchdrucker und Zigarrenarbeiter) gegen Ende der 1840er-Jahre entstanden, konzentrierte sie sich zunächst auf handwerkliche Gewerbe, in denen zumeist Zunfttraditionen fortwirkten. In der Frühphase fanden weder die besonders armen, im Pauperismus verelendeten Tagelöhner und Arbeiter noch die frühen Fabrikarbeiter der Textilindustrie zu Formen gewerkschaftlicher Organisation.
 
In Großbritannien gelangten die Gewerkschaften bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu teilweise überregionalen Zusammenschlüssen und politischer Bedeutung im Rahmen der demokratischen Wahlrechtsbewegung (Chartismus). Sie behielten den Typus der berufsverbandlichen Organisation qualifizierter Arbeiter (englisch craft unions) jedoch bei, sodass es gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Trades Union Congress (TUC), dem 1868 gegründeten Dachverband der Gewerkschaften, 184 einzelne Gewerkschaften, daneben aber noch über 1 000 unabhängige Organisationen gab. Erst gegen Ende des Jahrhunderts ist den britischen Gewerkschaften die Erweiterung ihres Organisationsfeldes vornehmlich auf nicht oder gering qualifizierte Arbeiter gelungen. Diese von der Fabian Society beeinflusste Entwicklung erfolgte teils durch Ausdehnung bestehender, teils durch Gründung neuer Gewerkschaften (englisch new unionism). Das berufsverbandliche Organisationsmodell strahlte auch auf die Länder des Commonwealth aus.
 
Gewerkschaftliche Bestrebungen in Deutschland konnten sich - abgesehen von den Auslandsvereinen wandernder Handwerker - im Vormärz wegen der politischen Repression der Metternich-Ära nicht entfalten; auch nach den begrenzten, seit 1850 rasch verbotenen Ansätzen in den Revolutionsjahren 1848/49 blieben gewerkschaftspolitische Bestrebungen bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts im wachsenden Maße scharfer obrigkeitsstaatlicher Überwachung und anhaltendem Verbotsdruck unterworfen, obwohl die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes 1869 das Koalitionsrecht gesetzlich verankert hatte. Seit den 1860er-Jahren entstanden, zum Teil im engen Zusammenhang mit der Entwicklung der politischen Arbeiterbewegung, einzelne Berufsverbände, die 1868/69 unter Verbindung mit parteipolitischen Strömungen zum Teil kurzlebige Dachverbände ausbildeten. Unter diesen erlangten die sozialliberalen Gewerkschaften, die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, dauerhaften Bestand, doch blieben diese Gewerkschaften in der Folgezeit für die Gewerkschaftsentwicklung weniger prägend, während die christlich-soziale Bewegung der späten 1860er- und frühen 1870er-Jahre in den 1894 gegründeten christlichen Gewerkschaften aufging; die sozialistischen Gewerkschaften waren in dieser Zeit anhaltenden Verboten ausgesetzt. Erst mit dem Auslaufen des Sozialistengesetzes 1890 konnte die Gewerkschaftsbewegung im Zuge einer breiten, im großen Bergarbeiterstreik 1889 gipfelnden Streikwelle dauerhaft begründet werden. Neben der in wichtigen Grundsätzen bis heute fortgeltenden Organisationsstruktur (Bildung von Zentralverbänden; erste Ansätze berufsübergreifender Industrieverbände, die als Organisationsprinzip erst nach 1945 durchgesetzt werden konnten; Autonomie der Einzelgewerkschaften gegenüber dem Dachverband) entstand 1890 die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands als Dachverband.
 
In ihrem Wachstum mit der konjunkturellen Entwicklung und den differenzierten Wachstumsprozessen der Industrie verbunden, entwickelten sich die freien, d. h. sozialistischen Gewerkschaften in Deutschland bis 1914 zur wichtigsten Massenbewegung, die 1890 rd. 300 000 und 1913 2,549 Mio. Mitglieder (darunter 8,8 % Frauen) umfasste. Ihre enge Verbindung zur SPD lockerte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts, jedoch wurde von beiden Seiten im Mannheimer Abkommen (1906) zumindest gegenseitige Konsultation in wichtigen politischen Fragen vereinbart. Die freien Gewerkschaften stärkten den Reformismus in der SPD und wandten sich selbst mehr und mehr einer reformorientierten, auf Verständigung setzenden Politik zu. Obwohl sie bis 1916 gesetzlich nicht anerkannt waren, erreichten sie in vielen Bereichen der Industrie bereits tarifvertragliche Regelungen. Nur zeitweilig gab es eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der wichtigsten konkurrierenden Organisation, den christlichen Gewerkschaften, die (1913) 343 000 Mitglieder (darunter 8,1 % Frauen) organisierten und selbst im Gewerkschaftsstreit Richtungskämpfe austrugen. Im Ganzen aber überwog eine erbitterte, die gewerkschaftliche Interessenvertretung schwächende Konkurrenz. Unter zugewanderten Arbeitern polnischer Herkunft mit zumeist preußischer Staatsbürgerschaft gewann seit der Jahrhundertwende ein polnischer Berufsverband - in Konkurrenz zu Organisationsversuchen der bestehenden (deutschen) Gewerkschaften - mit (1913) 75 000 Mitgliedern an Bedeutung. Im Angestellten- und Beamtenbereich erreichten freigewerkschaftlichen Organisationsversuche bis 1914 keine größere Bedeutung, hingegen vermochten der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband (DHV), vor allem aber bürgerlich-liberale Verbände, Angestellte zunehmend zu organisieren.
 
In den USA entstanden früheste Gewerkschaften ebenfalls bereits Ende des 18. Jahrhunderts. Zu dauerhafteren Gründungen, die sich, nach Versuchen mit Geheimorganisationen (Knights of Labor) u. a. Zentralisierungsansätzen, 1886 in der AFL zusammenschlossen, kam es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Als Typus den englischen »craft unions« verwandt, erfuhren die nordamerikanischen Gewerkschaften 1905 eine erste Herausforderung durch die konkurrierende Gründung der IWW, 1938 durch die CIO, die beide vornehmlich ungelernte Arbeiter organisierten.
 
In Frankreich herrschte bis 1864 ein striktes Koalitionsverbot; dennoch entstanden schon vor der Mitte des Jahrhunderts Sociétés mutuelles, d. h. Organisationen zur gegenseitigen Unterstützung der Arbeiter. Völlig frei konnten sich die französischen Gewerkschaften jedoch erst seit 1884 entwickeln, als das Koalitionsverbot endgültig aufgehoben wurde. 1886 entstand im Umkreis des Parti Ouvrier Français die Fédération Nationale des Syndicats, der sich als Verbindung der auf örtlicher Ebene gebildeten parteiunabhängigen »Arbeiterbörsen« seit 1892 die syndikalistische Fédération Nationale des Bourses du Travail gegenüberstellte. Vereinigungsversuche führten 1895 und 1902 zur Confédération Générale du Travail (CGT).
 
Dem französischen Beispiel der Parallelität von Berufsverbänden und lokalen Arbeiterkammern sowie syndikalistischen Organisationen ähnelte die italienische und die spanische Entwicklung. In Italien erlebten die Gewerkschaften seit der Wende zum 20. Jahrhundert einen starken Aufschwung, während die reformistische und die syndikalistische Richtung in Spanien in scharfe Konkurrenz zueinander traten.
 
In den südamerikanischen Staaten sind die frühen Gewerkschaften häufig stark von Einwanderern geprägt worden. Hier gewann, wie generell in romanischen Staaten, die anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegung unter oftmals starker Unterstützung durch Landarbeiter und Kleinbauern größeren Einfluss.
 
Neben die konfessionelle, ethnische und politische Aufspaltung der Gewerkschaften in nahezu allen Ländern trat nach dem Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf die Gewerkschaften in den wichtigen Industriestaaten die Kriegspolitik ihrer Regierungen durch Burgfriedensabkommen gestützt hatten, überall die vom sowjetischen Kommunismus und dessen in der Komintern verankerten Führungsanspruch ausgehende kommunistische Herausforderung der Gewerkschaften. Mit dem überaus raschen Mitgliederzustrom, der durchweg seit 1917 einsetzte, wurde daneben vielfach die innerverbandliche syndikalistische Opposition gestärkt. Diese wurde jedoch in Deutschland innerhalb des 1919 gegründeten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) mit Wiedereinsetzen stabiler wirtschaftlicher Verhältnisse zurückgedrängt. Die Mitgliederzahl im ADGB und im Afa-Bund, dem 1920 gegründeten Dachverband freigewerkschaftlicher Angestelltenverbände, wie auch im Ende 1919 gegründeten Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), der die christlichen Gewerkschaften zusammenfasste, erreichte in den Jahren 1920-22 mit zusammen knapp 9 Mio. (davon christlich rd. 2 Mio.) einen Höhepunkt. Während der Weltwirtschaftskrise seit 1929 sank die Zahl der Mitglieder stark (1932: zusammen rd. 5 Mio.); in der ersten Phase der sich entfaltenden nationalsozialistischen Diktatur sind Anfang 1933 Ansätze einer Annäherung an den Nationalsozialismus mit dem Ziel der Rettung der Gewerkschaftsorganisationen zu erkennen. Am 2. 5. 1933 wurden überall in Deutschland die freigewerkschaftlichen Gewerkschaftshäuser besetzt, in den folgenden Wochen die Gewerkschaften aufgelöst und in der Deutschen Arbeitsfront (DAF) zwangsweise zusammengefasst. Zahlreiche Gewerkschafter, die angesichts dieser Entwicklung Widerstand leisteten, wurden verfolgt, und zwar mit Methoden, die von Inhaftierung, Internierung in Konzentrationslagern bis zur Liquidierung reichten.
 
Nach der deutschen Kapitulation 1945 wurden unter alliierter Aufsicht zahlreiche Einzelgewerkschaften neu gegründet. Die richtungsgewerkschaftliche Spaltung der deutschen Gewerkschaften konnte in der Bundesrepublik Deutschland mit der Gründung des DGB (1949) überwunden werden. In der DDR entstand der FDGB als zentralistische Einheitsgewerkschaft; er lehnte wie alle Gewerkschaften in kommunistischen Staaten das Streikrecht ab und erkannte die Führungsrolle der SED an.
 
Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa ließ dort seit 1989 pluralistische Gewerkschaften entstehen, indem neben den sich reformierenden ehemaligen Staatsverbänden auch völlig neue Gewerkschaften gegründet wurden. Während in den meisten Reformstaaten auch alte Strukturen transformiert wurden, löste sich in der DDR der FDGB zum 30. 9. 1990 auf. Gleichzeitig dehnte der DGB sein Organisationsgebiet auf die neuen Länder aus. Die Einzelgewerkschaften übernahmen dabei die 1990 in autonome Industriegewerkschaften umgewandelten FDGB-Industrieverbände oder schufen neue Strukturen.
 
In Industrienationen wie Frankreich und Italien, zum Teil auch in Großbritannien, spielte der richtungsgewerkschaftliche Gegensatz zwischen kommunistischen und sozialreformistischen Gewerkschaften zunächst eine wichtige, spätestens jedoch seit 1989 eine erheblich verminderte Rolle. Kommunistische Gewerkschaften in marktwirtschaftlich strukturierten Gesellschaften verzichten keineswegs auf das Streikrecht, sondern verbinden gewerkschaftliche Interessenpolitik mit revolutionären Zielen. Sie sind, neben syndikalistischen und anarchistischen Strömungen, vielfach auch in Ländern der Dritten Welt einflussreich.
 
In den Ländern der Dritten Welt lassen sich wegen der Vielfalt der vorkolonialen Traditionen und der kolonialen Einflüsse, der Unterschiedlichkeit der naturgegebenen Verhältnisse, Produktionsstrukturen, Gesellschaften und der jeweiligen staatlichen Ordnungen gemeinsame Merkmale der Gewerkschaften kaum ausmachen. Ethnische und rassische Gegensätze, Besonderheiten der Produktionsstruktur und besonders die oftmals durch Autokratien oder Diktaturen geprägten politischen Rahmenbedingungen können die Entwicklung von Gewerkschaften im »klassischen« industriegesellschaftlichen Sinn entscheidend hemmen oder gar verhindern. Wie im Falle der anfänglich oft stammesgebundenen Gewerkschaften in vielen afrikanischen Staaten (»tribal unions«) schlagen sich auch überkommene Traditionen in der Gewerkschaftsbildung nieder. Äußerst hemmend für die Entwicklung der Gewerkschaften wirken sich in der Regel das überaus rasche Bevölkerungswachstum und die gleichermaßen rasche Urbanisierung dieser Gesellschaften, die oftmals von außen bestimmte Veränderung ihrer Agrar- und Gewerbestrukturen sowie ihr hohes Maß an Mobilität aus.
 
 Strukturen der gewerkschaftlichen Organisation
 
In der Entwicklung und Organisation lassen sich mehrere Struktur- und Entwicklungstypen unterscheiden. In einem sehr allgemeinen Sinn sind drei Gegensatzpaare unterschiedlicher Organisationsformen von Gewerkschaften erkennbar: 1) basisdemokratisch-syndikalistische Gewerkschaften und repräsentativdemokratisch-hierarchische Gewerkschaften, 2) ständisch-berufskonzentrierte Gewerkschaften und industriell-massengewerkschaftliche Gewerkschaften sowie 3) unabhängige Gewerkschaften und Richtungsgewerkschaften, die den maßgeblichen gesellschaftlichen Kräften (v. a. Parteien, Kirchen) angeschlossen sind. Daneben bildeten sich unter politisch gegensätzlichen Bedingungen zwei Formen der »Einheitsgewerkschaften« aus: die überparteiliche in pluralistischen Gesellschaften, die parteiabhängige in Diktaturen marxistisch-leninistischen Typs.
 
Entwicklungstypologisch haben sich die Gewerkschaften in der Regel aus lokalen berufsverbundenen, oftmals betrieblichen Fachvereinen, seltener überberuflichen Lokalgewerkschaften entwickelt, zu zunächst regional, später gesamtstaatlich zentralisierten Berufsgewerkschaften und schließlich zu berufsübergreifenden Großgewerkschaften (Industrieverbänden), die bestimmte Industriebereiche zusammenfassen, die meist durch vergleichbare Rohstoffe, Marktverhältnisse und Produktionsformen abgegrenzt sind.
 
In allen Gewerkschaften ist das Prinzip der innerverbandlichen Demokratie für die Prozesse der Meinungs- und Entscheidungsbildung maßgeblich, wenn auch in unterschiedlicher Form. Unter regional übersichtlichen Marktbedingungen (z. B. zeitweilig bei den Maurern) erfahren syndikalistische Organisationsprinzipien und Kampfformen in der Regel größeren Einfluss. In der gewerkschaftlichen Entwicklung haben sich betriebsverbundene und betriebsübergreifende Organisationsformen oftmals konkurrierend gegenübergestanden, wobei sich in Deutschland u. a. wegen des frühen Einflusses bürgerlich-repräsentativer Organisationsformen in Gestalt des Arbeiterbildungswesens die Letzteren bereits in den späten 1890er-Jahren endgültig durchsetzten. Betriebsverbundener Organisationsbildung sind die deutschen Gewerkschaften in der Phase der Herausbildung betrieblicher Interessenvertretungen (Betriebsrat) zunächst skeptisch begegnet; sie haben mit wachsendem Erfolg die entsprechende Gesetzgebung wie auch die seit 1891 und 1905 entstehenden Gremien und die Wahlen zu diesen Gremien zu beeinflussen versucht.
 
Die Meinungs- und Entscheidungsbildung der Gewerkschaften ist entsprechend dem Prinzip der bürgerlich-repräsentativen Verbandsdemokratie hierarchisch gestuft. Sie verläuft wie z. B. in Deutschland von der Orts- über die Kreis-, Bezirks- und Landesebene zur bundesstaatlichen Zentrale, wobei den verschiedenen Ebenen in der aktuellen Interessenpolitik unterschiedliche Kompetenzen zukommen. Die tarifpolitischen Interessen der Arbeitnehmer werden von Tarifkommissionen wahrgenommen; daneben gibt es eigene Einrichtungen zur Unterstützung der Mitglieder, etwa für die Rechtshilfe in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten, sowie zur Organisation der Freizeit (z. B. ACE Auto Club Europa e. V.).
 
 Gewerkschaftspolitik
 
Gewerkschaftspolitische Bestrebungen konzentrierten sich in der Frühzeit des Industriekapitalismus auf die Idee der wechselseitigen Unterstützung der Lohnabhängigen. Es ist ein grundsätzliches theoretisches Dilemma der Gewerkschaften, dass sie ihre Existenz der kapitalistischen Wirtschaftsweise verdanken, ihre Politik jedoch letztlich die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsweise zum Ziel haben muss, wenn die vollständige Aufhebung des Widerspruchs zwischen abhängiger Erwerbstätigkeit und Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel die wichtigste Aufgabe solcher Politik ist; dies umso mehr, als die Grundregeln demokratischer Willens- und Entscheidungsbildung gerade unter den Bedingungen dieser Wirtschaftsweise am besten gesichert erscheinen. Das in Deutschland in den späten 1920er-Jahren entwickelte Konzept der Wirtschaftsdemokratie und die nach 1945 von den Gewerkschaften erhobene Forderung nach Mitbestimmung lassen sich als der Versuch eines Auswegs aus diesem grundlegenden Problem verstehen. In anderen Ländern, etwa in Österreich, tragen die überbetrieblichen industriellen Beziehungen stärker korporative Züge.
 
Das Hauptgewicht der gewerkschaftlichen Politik liegt auf der Tarifpolitik. Als Mittel zu ihrer Durchsetzung werden v. a. die Streikdrohung, der Warnstreik und der Streik eingesetzt. Der Boykott als eine dieser Maßnahmen hat außerhalb von Deutschland eine wichtige, heute jedoch rückläufige Rolle gespielt. Darüber hinaus gehören zu den Aufgaben der Gewerkschaften Maßnahmen zur Bildung und Qualifizierung der Lohn- und Gehaltsabhängigen, die soziale Sicherung neben und nach der Erwerbstätigkeit, der Arbeitsschutz und der Schutz gegen Übergriffe und Tarif- oder allgemeine Rechtsverletzungen der Arbeitgeber sowie die Erforschung der Grundlagen, Formen und Folgen der Erwerbstätigkeit. Sie bedienen sich dabei einer Vielzahl von Einflusskanälen in der allgemeinen Parteien- und Verbändepolitik. Darüber hinaus suchen die Gewerkschaften in den Organen der Sozialversicherung und in der Rechtsprechung (v. a. auf arbeitsrechtlichem Gebiet) Arbeitnehmerinteressen zu vertreten.
 
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in Wirtschaft und Gesellschaft Änderungen vollzogen, die die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften deutlich eingeengt haben. Der zunehmenden weltwirtschaftlichen Verflechtung und Internationalisierung (v. a. der Finanz- und Kapitalmärkte; Globalisierung), dem Handeln der multinationalen Konzerne, der schärferen internationalen Konkurrenz haben die Gewerkschaften bisher nur in Ansätzen eine entsprechende internationale Zusammenarbeit entgegenzusetzen. Dies gilt auch für ein gemeinsames Vorgehen der Gewerkschaften auf dem Europäischen Binnenmarkt. Die Volkswirtschaften der Industriestaaten sind geprägt von zunehmender Automatisierung der industriellen Fertigung, aber auch der Büro- und Verwaltungsbereiche, die zu beträchtlichen Produktivitätserhöhungen geführt haben. Der Strukturwandel hin zur Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft hat in Deutschland zu großen Arbeitsplatzverlusten geführt (v. a. in der Bau-, Land- und Forstwirtschaft, in der Textil- und Bekleidungsindustrie, im Steinkohlenbergbau, in der Stahlindustrie und bei den [Schiffs-]Werften). Betriebsschließungen häuften sich aufgrund von Konkursen, Fusionen, wegen unternehmerischer Rationalisierungsmaßnahmen oder infolge von Privatisierung bislang staatlicher Unternehmen (v. a. in Großbritannien, Frankreich). Die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, v. a. der Arbeitszeit, rückt in den Betrieben immer stärker in den Vordergrund der Diskussion.
 
Mit der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik haben Konzeptionen Resonanz gefunden, die den gewerkschaftlichen Einfluss zurückdrängen und sowohl soziale Leistungen als auch den arbeitsrechtlichen Schutz der Arbeitnehmer verringern wollen. Die Gewerkschaften beklagen, dass der Anteil der Arbeitnehmer ständig zunimmt, die nur ein befristetes Arbeitsverhältnis haben oder die Teilzeitarbeit unter ungünstigen Bedingungen akzeptieren müssen. Neben wirtschaftlichen und politischen Veränderungen werfen der Wertewandel, die Ausprägung von verschiedenen Lebensformen, stärkere Interessendifferenzierung sowie wachsendes Streben nach Individualität neue Fragen für die Gewerkschaften auf. Die Berücksichtigung dieser Faktoren in der (Tarif-)Politik der Gewerkschaften hat erst begonnen. Angesichts der Tatsache, dass der Anteil der Arbeiter an der Gesamtzahl der Beschäftigten ständig zurückgeht, stellt sich den Gewerkschaften die Frage einer stärkeren Mitgliederwerbung im Angestelltenbereich.
 
In Deutschland haben sich die Gewerkschaften seit den 1980er-Jahren mehr für die Zusammenarbeit mit Organisationen der »neuen sozialen Bewegungen«, der Ökologie- und der Friedensbewegung geöffnet und dabei zum Teil auch deren Inhalte und Aktionsformen (z. B. Menschenketten, Blockaden) übernommen. Bedeutsam ist in Deutschland auch das Spannungsfeld zwischen den Gewerkschaften als Gesamtinteressenvertretungen der Arbeitnehmer einer Branche und den - meist gewerkschaftlich orientierten - betrieblichen Interessenvertretungen, den Betriebsräten, die v. a. betriebsbezogen handeln. Der langfristige sozioökonomische Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft, die Einebnung einer eindeutigen Abgrenzung zwischen Angestellten und (Fach-)Arbeitern sowie die Verminderung programmatischer und gewerkschaftspolitischer Differenzierungen führt dazu, dass die Gewerkschaften mit veränderten Funktionsanforderungen konfrontiert sind, die programmatische Neuorientierungen und organisatorische Reformen verlangen.
 
Der Abbau von Arbeitsplätzen hat dazu geführt, dass auf betrieblicher Ebene neue und zum Teil radikalere Formen gewerkschaftlicher Aktivitäten praktiziert wurden, wobei Betriebsbesetzungen sowie Solidaritätsaktionen wie Gottesdienste oder Konzerte auf Betriebsgeländen oder Blockadeaktionen zu nennen sind.
 
 Internationale Verbindungen der Gewerkschaften
 
Internationale Kontakte der Gewerkschaften entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf mehreren Ebenen: als Kontakte einzelner Berufsverbände oder Industriegewerkschaften anfangs im Zusammenhang mit der Zweiten Internationale, durch die Gründung eigenständiger Organisationen in Gestalt der Internationalen Berufssekretariate (IBS) sowie in Form der Zusammenarbeit von Dachverbänden nationaler Gewerkschaftsbewegungen im Internationalen Gewerkschaftsbund (IGB), der in seinen Anfängen auf das Jahr 1901 zurückgeht. Seit 1921 sammelte sich die kommunistische Weltgewerkschaftsbewegung in der Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI), die sich im Dezember 1937 auflöste. Die christlichen Gewerkschaften schlossen sich erstmals 1908 in Zürich, mit größerer Dauer 1920 in Den Haag zum Internationalen Bund Christlicher Gewerkschaften (IBCG) zusammen und benannten sich 1968 in Weltverband der Arbeitnehmer (WVA) um. Als Versuch, alle Gewerkschaften unbeschadet ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen zusammenzufassen, entstand 1945 in Paris der IGB als Weltgewerkschaftsbund (WGB) neu; dieser Einigungsversuch, an dem sich die christlich orientierten Gewerkschaften nicht beteiligten, scheiterte bereits an der Auseinandersetzung über den Marshallplan. Ende 1949 schlossen sich die reformistisch orientierten, in der Tradition des IGB stehenden Gewerkschaften in London zum Internationalen Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) zusammen, während der WGB zum Dachverband kommunistischer Gewerkschaften, beherrscht durch den Zentralrat der sowjetischen Gewerkschaften, wurde. Nach 1990 wurde er durch zahlreiche Austritte faktisch bedeutungslos. Unter den sonstigen internationalen Vereinigungen der Gewerkschaften hat neben der als Organization of African Trade Union Unity gegründeten panafrikanischen Gewerkschaftsbewegung v. a. der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) Bedeutung erlangt.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Anarchismus · Arbeiterbewegung · Armut · Einheitsgewerkschaft · gewerkschaftliche Bildungsarbeit · Hans-Böckler-Stiftung · Industrialisierung · Koalitionsfreiheit · Marxismus · Mitbestimmung · Reformismus · Revisionismus · Solidarität · Sozialismus · Streik · Syndikalismus · Tarifvertrag · Trade Unions
 
Literatur:
 
J. Bergmann u. a.: G. in der Bundesrep., 2 Bde. (1-31977-79);
 K. von Beyme: G. u. Arbeitsbeziehungen in kapitalist. Ländern (1977);
 W. Kendall: G. in Europa (a. d. Engl., 1977);
 J. P. Windmuller: The international Trade Union movement (Deventer 1980);
 J. A. Moses: Trade Unionism in Germany from Bismarck to Hitler 1869-1933, 2 Bde. (Totowa, N. J., 1982);
 
Internat. G.-Hb., hg. v. S. Mielke (1983);
 
G. in den Demokratien Westeuropas, hg. v. H. Rühle u. a., 2 Bde. (1983);
 
G.-Jb., hg. v. M. Kittner (1984 ff.);
 
Auf dem Weg zur Massen-G., hg. v. W. J. Mommsen u. a. (1984);
 
Quellen zur Gesch. der dt. G.-Bewegung im 20. Jh., hg. v. H. Weber u. a., auf zahlr. Bde. ber. (1985 ff.);
 L. Reichold: Gesch. der christl. G. Österreichs (1987);
 K. Schönhoven: Die dt. G. (1987);
 K. Tenfelde u. a.: Gesch. der dt. G. von den Anfängen bis 1945 (1987);
 
Trade unions and the ILO, hg. vom International Labour Office (Genf 21988);
 
Gesch. der G. in der Bundesrep. Dtl. Von den Anfängen bis heute, hg. v. H. O. Hemmer u. K. T. Schmitz (1990);
 
G. u. Angestelltenverbände in der Schweizer. Privatwirtschaft, hg. v. R. Fluder u. a. (1991);
 G. Halberstadt: Die Angestellten u. ihre Gewerkschaft (1991);
 D. Brunner: Quellen zur Gewerkschaftsgesch. (1992);
 
Linksparteien u. G. in Europa. Die Zukunft einer Partnerschaft, hg. v. H. Grebing u. T. Meyer (1992);
 
Europ. Gemeinschaft u. G., hg. v. D. Albers (1993);
 C. Hornstein: G.-Entwicklung u. Bildung im Wandel (1996);
 H. Limmer: Die dt. Gewerkschaftsbewegung (131996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Gewerkschaften: Einig sind wir stark!
 
Gewerkschaften: Gewerkschaftsbewegungen vor 1914
 

Universal-Lexikon. 2012.