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Grundwerte
Grundwerte,
 
ihrem allgemeinen Sinn nach elementare Aufbauprinzipien menschenwürdiger Existenz als eines Lebens in Gemeinschaft. In ihnen artikulieren sich erste Überzeugungen im Verständnis des Menschen von der Wirklichkeit seiner selbst und der Grundrelationen seines leibhaftigen Daseins in Natur und Geschichte. Die Rede von den »Grundwerten« ist somit auch Ausdruck der Tatsache, dass Aufbau und Gestaltung konsensfähiger Ordnungen menschlichem Zusammenlebens stets eine Anthropologie beinhalten und sittlich-rechtliche Verbindlichkeiten ohne sie nicht begründbar sind. Das Bedeutungsmoment des »Grundes« bezeichnet hierbei die unmittelbar nicht fassbare und doch tragende Mitte personaler Existenz. In den »Grundwerten« spricht sich somit der Mensch auf unbeliebige Anfangsgründe seines Daseins an. Grundwerte sind daher nicht notwendig im Sinne eines zeitlosen Seinsgesetzes zu verstehen, sondern machen umgekehrt deutlich, dass sich das Wesen des Menschen nicht losgelöst von der Art und Weise seines Daseinsverständnisses erschließen lässt. Die Rede vom »Wert« im Zusammenhang mit den »Grundwerten« ist daher zunächst im Sinne primärer Einschätzungen zu verstehen, in denen ein Sachverhalt in seiner Bedeutsamkeit erfasst wird. Einschätzungen solcher Art sind aber nicht zu allen Zeiten und bei allen Menschen gleich, sondern unterliegen dem Sichwandeln menschlicher Einsichtnahme schlechthin. Die Anerkenntnis der Tatsache, dass es etwas gibt, das den Menschen »im Grunde« trägt, hebt die Frage nach den Einschätzungen nicht auf, sondern macht nur umso bewusster, wie sehr Grundwertvorstellungen mit Orientierungsfragen der Menschheit selbst verbunden sind, die in religiösen Schriften, ethische Prinzipien und nationalen Traditionen vielfältig Antwort und Ausgestaltung erfahren haben.
 
 Zur Geschichte der Grundwertediskussion
 
Terminologisch gesehen noch relativ jungen Datums, wird der Begriff der Grundwerte sowohl im Sinne einer leitenden Perspektive des Einschätzens, Wertens und Wollens als auch im Sinne ethischer Evidenz verwendet. Letzterer Aspekt wird v. a. in der Tradition der Wertphilosophie (M. Scheler, N. Hartmann) betont. Seine eigentliche Ausprägung verdankt der Begriff jedoch dem ersteren Bedeutungskomplex. Darin wurde er v. a. in der sozialdemokratischen Grundsatzdiskussion aufgenommen und weiterentwickelt (A. Arndt, W. Eichler). Im Godesberger Programm der SPD von 1959 wurde die auf die Tradition der Französischen Revolution zurückgehende Trias von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität den erstrangigen Grundwerten des demokratischen Sozialismus zugeordnet. In diesem engeren Sinn der klassischen Trias ist der Begriff der Grundwerte in die Programmatik politischer Parteien eingegangen.
 
Die neuere Grundwertedebatte begann 1976 im Umfeld der Wahlen zum achten Deutschen Bundestag. Das schnell anwachsende Interesse an der Grundwerteproblematik ging einher mit einer erheblichen Begriffserweiterung, die die Grundwerte nicht nur als orientierende Maßstäbe, sondern ebenso auch als Indikatoren einer Orientierungskrise in fundamentalen Bereichen sittlich-rechtlicher Ordnung erscheinen ließ. In der Erklärung »Gesellschaftliche Grundwerte und menschliches Glück« (7. 5. 1976 hatten die Deutschen Bischöfe ihre Besorgnis über Verschiebungen im Wert- und Normbewusstsein unserer Gesellschaft (z. B. geringere Wertschätzung der Familie) geäußert. Die ökumenische Erklärung »Grundwerte und Gottes Gebot« der evangelischen und katholischen Kirche (30. 10. 1979 konstatierte zwar eine relativ breite Übereinstimmung über einzelne »ethische Selbstverständlichkeiten« (Personwürde, Bedeutung des Gewissens, Gerechtigkeit, Gleichrangigkeit von Mann und Frau), sah aber den Zusammenhang der Grundwerte, die Formen der praktischen Gestaltung und die Art ihrer Inanspruchnahme als zunehmend umstritten an. In der Bewertung der einzelnen Entwicklungen zwar kontrovers, machte die Debatte jedoch bald deutlich, dass der Umbruch im Erfahrungshorizont von Kriegs- und Nachkriegsgeneration die Überzeugungs- und Durchsetzungskraft grundlegender ethischer Forderungen nicht unberührt gelassen hat. Die Abstützung des Wertekonsenses der 50er-Jahre durch die gemeinsame Erfahrung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft und ihres Endes vermochte die Defizite eines durch Wirtschaftswachstum begünstigten Pragmatismus und einfachen Fortschrittsglaubens sowie die Herausforderungen besonders durch Studentenrevolte (1968), Rezession, Energiekrise (Erdölschock 1973), Technik- und Umweltproblematik, Wiedervereinigung (1990) und allgemein die Beschleunigung in den Veränderungen moderner Gesellschaft nicht mehr zureichend aufzufangen. So zahlreich die Krisensymptome sind, die genannt wurden, so vielfältig entwickelte sich das Bedeutungsspektrum von »Grundwerten«. Grundwerte beinhalten hierbei über die klassische Trias hinaus allgemeine Rechtsgüter und Institutionen (z. B. Leben, Ehe und Familie), wie sie v. a. in den Grundrechten der Verfassung verankert sind, sittliche Haltungen (Tugenden, z. B. Dialogfähigkeit) sowie ethisch unabdingbare Prinzipien gesellschaftlicher und politischer Ordnungsgestaltung (z. B. Demokratie-, Rechtsstaats-, Sozialstaats-, Gemeinwohl-, Subsidiaritätsprinzip). Einende Mitte letztlich aller Grundwertediskussion ist die Überzeugung von der Würde und Freiheit der menschlichen Person.
 
 Grundwerte und Grundrechte
 
Mit der Anerkennung der Menschenwürde als oberstes Verfassungsprinzip ist eine Wertentscheidung gegeben, die eine einfache Trennung zwischen Grundwerten und Grundrechten verbietet, jedoch eine differenzierte Zuordnung und Vermittlung geradezu erfordert. Weithin unbestritten und durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt sind die Grundrechte gegenüber allem Rechtspositivismus eine wertmäßig objektiv begründete Ordnung. Grundrechte sind demnach verfassungsinkorporierte Grundwerte, sie stellen als ethische Substanz das »Schutzgut der abwehrbereiten Demokratie« dar. Analog zur Differenz zwischen Moral und Recht können die Grundwerte nicht in ihrem vollen werthaften Aufbaucharakter, sondern nur in ihrem als Rechtsgut oder Rechtszweck positivierbaren Gehalt in Grundrechte eingehen. Der mit der Verfassung umschriebene normative Grundkonsens ist nämlich in seiner Identität nicht aus sich selbst heraus zu sichern, sondern bedarf aufgrund seiner relativen Offenheit und Abstraktheit der Begründung und Konkretisierung durch verfassungsexterne Gehalte. Staatliche Gesetzgebung und gesellschaftliche Anschauungen bilden hierbei die Hauptquellen. Grundwerte sind in ihrer inneren Zielhaftigkeit auf die Menschenwürde hin sowohl vorgegebene als auch aufgegebene Ordnungen. Die Verantwortung für die Grundwerte darf daher weder einseitig dem Staat noch ausschließlich der Gesellschaft zugeschrieben werden. Soweit Grundwerte unter dem Aspekt staatsbürgerlich-politischer Freiheit und des Zusammenlebens im Recht betrachtet werden, ist der Staat als ihr erster Garant in besonderer Weise verpflichtet; soweit sie aber in ihrem Charakter als Aufbauprinzipien von Formen gemeinschaftlicher Freiheit im Blick stehen, sind darüber hinaus alle gesellschaftlich relevanten Gruppen zur Förderung eines Ethos der Grundwerte herausgefordert.
 
 Grundwerte und die politische Kultur der Freiheit
 
Grundwerte, weniger im Sinne einzelner Werte, sondern als eine ethische Gesamtorientierung verstanden, sind nicht zuletzt auch eine Antwort auf die Herausforderung des neuzeitlichen Pluralismus. Grundwerte markieren hierbei die Grenzlinien einerseits zur Indifferenz einer wertneutralen Pluralität und andererseits zur Parteilichkeit weltanschaulicher Totalität. Die Verbindlichkeit von Grundwerten als Fundament politischer Kultur gründet in der Autorität der Freiheit. Denn Freiheit ist nicht das Gegenteil von Bindung, Ordnung und Verpflichtung, ihr wirklichkeitstragender Gehalt erschließt sich gerade umgekehrt aus dem entschiedenen Gegensatz zu Willkürherrschaft, Strukturen legalisierten Unrechts, erniedrigender Abhängigkeit, Entmündigung des Gewissens oder Entwertung der Vielfalt menschlicher Lebensäußerungen. Freiheit, wie sie in der Würde des Menschen als oberster Grundwert immer schon repräsentiert ist, ist selbst die Substanz aller an Grundwerten orientierten Kultur. In diesem Sinne gelten Leben, der Schutz von Eigen- und Mitverantwortung, Gleichbehandlung im Recht sowie auch Frieden als elementare Verbindlichkeiten einer politischen Kultur der Freiheit. Grundwerte dieser Art sind ohne die Freiheit nicht wahrheitsfähig, Freiheit ohne die Grundwerte jedoch ist nicht legitimationskräftig zum Aufbau einer sittlich-politischen Lebensform, wie sie die Demokratie als der der politischen Kultur der Freiheit gemäße Handlungsraum ihrer Idee nach wenigstens darstellt. Wirksamkeit und Bestand eines solchen Aufbaus hängen dann wesentlich von den den Grundwerten zugeordneten Haltungen oder Tugenden ab. Mut zur Wahrheit, Gerechtigkeitssinn, Toleranz, Fairness, Zivilcourage, die Kunst des Verzichts sind hierbei wesentliche Formen von Offenheit für die Freiheit. Grundwerte in diesem Verständnis sind daher sowohl zielhafte Grundsätze als auch Inhalte und Handlungsformen einer politischen Kultur der Freiheit. Deren konkrete geschichtliche Gestalt bleibt dabei freilich stets gefährdet und umstritten.
 
 Grundwerte in der theoretischen Auseinandersetzung
 
Im Pro und Contra des theoriebezogenen Dialogs um die Grundwerte lassen sich eine politische, eine theologische und eine philosophische Diskussionsebene unterscheiden.
 
Die politische Meinungsbildung artikuliert sich insbesondere in der parteipolitischen Programmatik. Deutung und Zuordnung der drei Grundwerte von Freiheit, Gleichheit/Gerechtigkeit, Brüderlichkeit/Solidarität sind hierbei Momente parteigeschichtlicher Identitätsfindung. Die sozialdemokratische Tradition bestimmt Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als grundsätzlich gleichrangige, in einem notwendigen Zusammenhang stehende Werte. Aus einer deutlicheren Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat heraus betont sie zudem die Nichtidentität der Grundwerte der SPD mit den Verfassungsgrundsätzen des Grundgesetzes. Die liberale Tradition versteht ihre Zielsetzung von der Erhaltung und Entfaltung der Individualität persönlichem Daseins und der Pluralität menschlichem Zusammenlebens her; sie optiert für den unbedingten Vorrang der Freiheit. Die christdemokratische Tradition bekennt sich ebenfalls zur Grundwertetrias von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, sieht aber das Verhältnis der Grundwerte zueinander als eine entsprechend den sich wandelnden Herausforderungen sich stets von neuem stellende Aufgabe an. Ausgehend von einer Idee des werterfüllten Staates sieht sie den Aufbaucharakter der Grundwerte mehr in der ordnungshaften Evidenz, die daher eine zu starke Unterscheidung von den verfassungsmäßigen Grundrechten nicht zulässt. In neueren parteipolitischen Grundsatzdiskussionen rückt der Aufbaucharakter der Grundwerte in eine deutlichere Nähe zur Zukunftsorientierung und Umweltverantwortung. So versteht sich die Politik der Partei »Die Grünen« von vier Grundsätzen her: als ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei.
 
Innerhalb der theologischen Diskussion werden Grundwerte zum einen - mehr in evangelischer Theologie - relational im Sinne dreier Sachmomente (Freiheit, Gleichheit, Teilhabe) betrachtet, welche die Grundfigur eines jeden Menschenrechts darstellen (W. Huber/H.-E. Tödt); sie sind als ethische Imperative für die Gestaltung einer menschenwürdigen Gesellschaft unentbehrlich. Zum anderen werden Grundwerte mehr in katholischer Theologie - als Ausdruck von vernünftig erkennbaren Existenzordnungen gesehen, in denen sich das Humanum verbindlich auslegt (J. Messner). Nach gemeinsamer christlicher Überzeugung aber gehört zur vollen Menschlichkeit des Menschseins auch die Annahme der Grenzen menschlicher Verantwortung in Schuld, Schicksal, Leiden und Tod und »damit das Vertrauen auf eine letzte Wahrheit«, die menschliche Verfügbarkeit entzogen ist.
 
Die philosophische Diskussion über die Grundwerte, zwischen Skepsis und Bejahung, richtet ihre Kritik weniger gegen die v. a. durch die Grundwertetrias bezeichnete Sache selbst, als vielmehr gegen die Art und Weise der Inanspruchnahme und Begründung. Grundsätzliches Bedenken erfährt die Verwendung des Wertbegriffs. Als Ausdruck einer echten philosophischen Verlegenheit soll er die Lücke ausfüllen, die die traditionelle Metaphysik hinterlassen hat (H.-G. Gadamer). V. a. drei Gründe lassen den Begriff als problematisch erscheinen: die ökonomische Wertvorstellung, die seit F. Nietzsches »Umwertung aller Werte« deutlich gewordene Gefahr des Wertrelativismus und das in der deutschen Wertphilosophie entwickelte Verständnis von Werten im Sinne platonischer Ideen. Von der Tradition der kritischen Theorie (M. Horkheimer, T. W. Adorno) her sind Grundwerte gerade dort, wo sie als überzeitlich angesehen werden, ideologieanfällige Ideen, die zur Legitimation bestehender politischer und sozialer Verhältnisse missbrauchbar sind. Die Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind daher vor der Okkupierung durch einseitige Interessen zu schützen (K. Bayertz). Aus der Sicht der neuzeitlichen Freiheitsphilosophie sind Grundwerte wesenhaft Menschenrechte; der aufbauende Gehalt der Grundwerte liegt in ihrem Charakter als ethische Notwendigkeiten, die nämlich die Not der Freiheit zu wenden vermögen (J. Schwartländer). Im Lichte der Diskursethik (vergleiche K.-O. Apel) ist die kommunikative Praxis mit ihrer Grundnorm der Gegenseitigkeit erster Grundwerte und hermeneutisches Prinzip aller Grundwerte zugleich (D. Böhler). In der Perspektive der Systemtheorie haben Grundwerte die Bedeutung einer staatstragenden Zivilreligion (N. Luhmann). In der Tradition personalistischer Philosophie ist die Personnatur in ihrer Leibhaftigkeit, Sozialität und Transzendenzverwiesenheit Dreh- und Angelpunkt aller Grundwerte (A. Schwan). Für eine Ethik der Zukunftsverantwortung ist das Sein selbst in der Mannigfaltigkeit der Zwecke der Grundwerte aller Werte, in ihm gründet auch die Verpflichtung gegenüber der Permanenz zukünftiger Integrität menschlichem Lebens auf Erden (H. Jonas).
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Chancengleichheit · Ethik · Freiheit · Frieden · Gemeinwohl · Gerechtigkeit · Grundrechte · Menschenrechte · Naturrecht · Politik · Wert · Wertewandel
 
Literatur:
 
Was sind G.?, hg. v. O. Kimminich (1977);
 
G. in Staat u. Gesellschaft, hg. v. G. Gorschenek (21978);
 A. Schwan: G. der Demokratie (1978);
 
G. u. Gottes Gebot. Gemeinsame Erklärung des Rates der Ev. Kirche in Dtl. u. der Dt. Bischofskonferenz (1979);
 
G. für ein neues Godesberger Programm, hg. v. E. Eppler (1984);
 
Werte, Leitbilder, Tugenden. Zur Erneuerung polit. Kultur, hg. v. K. Weigelt (1985);
 
Grundl. der polit. Kultur des Westens, hg. v. K. W. Hempfer u. a. (1987);
 W. Huber u. H.-E. Tödt: Menschenrechte. Perspektiven einer menschl. Welt (31988);
 H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung (81988);
 G. Brunner: G. als Fundament der pluralist. Gesellschaft. Eine Unters. der Positionen v. Kirchen, Parteien u. Gewerkschaften in der Bundesrep. Dtl. (1989).

Universal-Lexikon. 2012.