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Indogermanistik
In|do|ger|ma|nịs|tik 〈f.; -; unz.〉 sprachvergleichende Wissenschaft von den indogerman. Sprachen

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In|do|ger|ma|nịs|tik, die:
Wissenschaft, die die einzelnen Sprachfamilien des Indogermanischen u. die Kultur der Indogermanen erforscht.

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Indogermanịstik,
 
ein Zweig der historischen Sprachwissenschaft, der sich mit der Erforschung der indogermanischen Sprachen nach ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden und ihrer geschichtlichen Entwicklung befasst. Durch die räumliche Erstreckung und die zeitliche Tiefe der Sprachzeugnisse konnten hier die Methoden historisch-vergleichender Sprachwissenschaft am besten entwickelt und überprüft werden. Zur historisch-komparativen Methode tritt die innere Rekonstruktion und der universell-typologische Vergleich. Für die grammatische Erforschung wirkt sich neuerdings die Übernahme des Systemgedankens aus der synchron orientierten modernen Linguistik als wichtiger Ansatz aus.
 
Geschichte:
 
Nachdem die Verwandtschaft der wichtigsten indogermanischen Sprachen schon 1786 von W. Jones erkannt worden war, wurde die Indogermanistik von R. Rask 1814, F. Bopp 1816 und J. Grimm 1819 begründet. Auf dem Wege des Vergleichs und entsprechender Rückschlüsse erkannte Rask die Regelmäßigkeit der Lautentsprechungen, Bopp sah die Übereinstimmungen im Formenbau v. a. beim Verb und begründete die historisch-vergleichende Grammatik, während Grimm die Bedeutung der geschichtlichen Entwicklung am Beispiel der germanischen Sprachfamilie aufzeigte. Eine (verfrühte) Rekonstruktion der Grundsprache unternahm zuerst A. Schleicher. Inzwischen hatten in Großbritannien Max Müller (* 1823, ✝ 1900), in den USA William Dwight Whitney (* 1827, ✝ 1894), in Frankreich Michel Bréal (* 1832, ✝ 1915) und in Italien Graziadio Isaia Ascoli (* 1829, ✝ 1907) begonnen, sich mit der vergleichenden Sprachwissenschaft zu beschäftigen. Es folgte eine Reihe von Entdeckungen auf dem Gebiet der Lautentsprechungen (H. Grassmann, Ascoli, August Fick, * 1833, ✝ 1916, K. Verner, Hermann Collitz, * 1855, ✝ 1935, Filip Fjodorowitsch Fortunatow, * 1848, ✝ 1914) und des Formenbaues (K. Brugmann, A. Leskien, F. de Saussure).
 
Gegenüber einer älteren Ansicht vom »sporadisch« eintretenden Lautwandel vertrat eine Anzahl jüngerer Forscher (Brugmann, Leskien) die These, dass es ausnahmslos gültige Lautgesetze gebe (»Schule der Junggrammatiker«). Die Gegenposition, vertreten v. a. durch Johannes Schmidt, später durch Wilhelm Havers (* 1879, ✝ 1961) und Franz Specht (* 1888, ✝ 1949), betonte die Einwirkung des Affekts auf die Lautgestalt und analysierte geschichtliche Sonderbedingungen im Rahmen einzelner indogermanischer Sprachen. Im weiteren Verlauf waren - unter Ausgleich der früheren, unterschiedlichen Positionen - die Lautgesetze als Auswirkungen von Lauttendenzen erklärt worden, und man wandte sich, angeregt durch die Neufunde indogermanischer Rest- und Splittersprachen, teils diesen, teils der Untersuchung der Einzelsprachen unter vergleichenden Gesichtspunkten zu (J. Wackernagel, W. Schulze, P. Kretschmer, A. Meillet, F. Sommer). Bedeutende Fortschritte wurden auf dem Gebiet der Syntax durch die Erklärung von Sachverhalten auf der Grundlage einer Einwirkung psychologischer Motive sowie sozialer Bezüge erzielt (Havers).
 
Grundsprache:
 
Durch Vergleich der indogermanischen Sprachfamilie mit einem Stammbaum (Schleicher) wandte sich die Forschung früh der Problematik einer Ursprache (indogermanische Grundsprache) zu, die als verhältnismäßig einheitlich angesehen wurde, weswegen sie nur auf einem engeren Raum (»Urheimat«) entstanden sein konnte. Die weitere Verbreitung konnte demnach nur durch Wanderungen entstanden sein, für die die Völkerwanderung der Germanen ein historisch belegtes Vorbild abgab. Die Ergebnisse urgeschichtlicher Forschungen ergaben hierfür weitere Anhaltspunkte, doch blieb das Ausbreitungszentrum unklar (Indogermanen). Nach der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Frage der Entstehung und Ausbreitung neuerlich diskutiert. So wurden vorskythische Hügelgräber im nördlichen Schwarzmeergebiet als spätindogermanische Begräbnisstätten gedeutet. Daher konzentriert sich die Erforschung auf die Restsprachen des Balkans, wobei sich über das Gebiet der Daker engere Beziehungen zur baltischen Sprachgruppe abzeichnen.
 
Wortforschung, Vor- und Frühgeschichte:
 
Zu Rückschlüssen auf die »Urheimat« führte die Ausbreitung der Buche, die östlich einer Linie vom Baltischen zum Schwarzen Meer nicht vorkam, ferner der europäische Lachs. Soweit gemeinsame Bezeichnungen erschlossen wurden, blieb jedoch die Frage offen, welcher Gegenstand damit ursprünglich gemeint war; Wortverlust kann nicht als Unkenntnis der Sache gedeutet werden. Allerdings wurde auch die wortgeschichtliche Methode differenziert. Die Rückschlüsse aus dem gemeinsamen Wortschatz auf eine voreinzelsprachliche Sachkultur (»linguistische Paläontologie«) können an aufbereitetem urgeschichtlichem Material (z. B. Metallen) überprüft werden. Der bloße Vergleich von Wortwurzeln gilt als ungenügend, während gerade die Bildungsweise für die Geschichte des Wortes aufschlussreich sein kann. Früher ging man davon aus, dass die Urheimat der Indogermanen in den Steppen Eurasiens durch das Fehlen einer Bezeichnung für den Wald erwiesen werden könne. Seither wurde jedoch festgestellt, dass konkrete Einzelbenennungen erst allmählich generelle Bedeutung annehmen, was in verschiedenen Sprachen zu unterschiedlichen Ergebnissen führt.
 
Seit Meillet bildet die Ermittlung der sozialen Verhältnisse aus dem Wortschatz ein wichtiges Thema, das neuerdings É. Benveniste erfolgreich wieder aufgenommen hat. Die linguistischen Rückschlüsse können gerade hier durch eine genaue Interpretation alter Gesetzestexte und religiöser Schriften gestützt werden, was - nach längerer Unterbrechung - wieder zu einer Zusammenarbeit der Indogermanistik mit den Philologien der alten Sprachen führte.
 
Sprachbund-
 
und Mischsprachentheorie: Der traditionellen Ansicht von dem Zerfall der Ursprache in verschiedene Einzelsprachen, deren notwendige Folge die Suche nach einer Urheimat war, sind in neuerer Zeit zwei Alternativen gegenübergetreten. N. S. Trubezkoj stellte eine Anzahl typologischer Merkmale auf, die alle zusammen bei indogermanischen Sprachen gegeben sein müssten; einerseits könnten sie durch nachbarlichen Austausch erworben werden, sodass neue Sprachen zum Kern dieser indogermanischen Sprachgruppe hinzugetreten wären, andererseits könnten Sprachen aus diesem »Sprachbund« durch Aufgabe bestimmter Merkmale wieder ausscheiden. Für V. Pisani bildet ein »Protosanskrit« den Schwerpunkt eines Sprachbundes, der seine von einer Priester- (und Krieger-)Kaste getragene Kultur durch Kolonisation und Eroberung verbreitete, wobei als Stoßrichtungen Süd- und Mitteleuropa, Indien und der Iran sowie Kleinasien angenommen werden. Im Zusammenhang mit der Untersuchung der Randsprachen wird dabei auch die Frage nach einer protoindogermanischen Schicht und periindogermanischen Sprachen aufgeworfen. Während die Stammbaumhypothese schon früh durch den Hinweis auf Gemeinsamkeiten mit den semitischen Sprachen zur Ansicht von einer indogermanisch-semitischen Urverwandtschaft (nostratische Sprachen) und schließlich zur Hypothese des einheitlichen Ursprungs aller Sprachen (A. Trombetti, * 1866, ✝ 1929) überhaupt geführt hatte, suchen neuere Forschungsansätze die (partiellen) Übereinstimmungen des Indogermanischen mit unverwandten Nachbarsprachen als Ergebnis uralter Sprachmischung (»Mischsprachentheorie«) zu erklären. Christianus Cornelius Uhlenbeck (* 1866, ✝ 1951) und Emil Forrer (* 1894, ✝ 1986) sahen eine Komponente in einer agglutinierenden Sprache mit regelmäßigem Formenbau, wonach die Unregelmäßigkeiten auf eine Beimischung polysynthetischer Sprachen (Eskimoisch, Altkaukasisch) zurückgeführt wurden. Während Björn Collinder (* 1894, ✝ 1983) zunächst von einer indouralischen Grundsprache ausging, ergaben seine späteren Untersuchungen eine Lösung im Sinne einer später eingetretenen Mischung der beiderseitigen Randsprachen, wie sie u. a. Aulis J. Joki (* 1913) vertritt.
 
Literatur:
 
T. Benfey: Gesch. der Sprachwiss. u. oriental. Philologie in Dtl. (1869);
 
Gesch. der indogerman. Sprachwiss., hg. v. W. Streitberg, 8 Tle. (1916-36);
 V. Thomsen: Gesch. der Sprachwiss. bis zum Ausgang des 19. Jh. (a. d. Dän., 1927);
 O. Zeller: Problemgesch. der vergleichenden (indogerman.) Sprachwiss. (1967);
 É. Benveniste: Le vocabulaire des institutions indo-européennes, 2 Bde. (Paris 1969);
 A. Erhart: Studien zur indoeurop. Morphologie (Brünn 1970);
 A. Erhart: Indoevropské jazyky (Prag 1982);
 V. Pisani: Le lingue indeuropee (Brescia 31971);
 V. Pisani: Introduzione alla linguistica indoeuropea (Neuausg. Turin 1988);
 A. J. Joki: Uralier u. Indogermanen (Helsinki 1973);
 R. Schmitt-Brandt: Die Entwicklung des indogerman. Vokalsystems (21973);
 J. Kuryłowicz: Problèmes de linguistique indo-européenne (Breslau 1977);
 Wolfgang P. Schmid: Indogermanist. Modelle u. osteurop. Frühgesch. (1978);
 F. Crevatin: Ricerche di antichità indeuropee (Triest 1979);
 W. R. Schmalstieg: Indo-European linguistics (University Park, Pa., 1980);
 W. Meid: Archäologie u. Sprachwiss. (Innsbruck 1989);
 O. Szemerényi: Einf. in die vergleichende Sprachwiss. (41990).
 
Weitere Literatur: indogermanische Sprachen.

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In|do|ger|ma|nịs|tik, die: Wissenschaft, die die einzelnen Sprachzweige des Indogermanischen u. die Kultur der Indogermanen erforscht.

Universal-Lexikon. 2012.