Vọ̈l|ker|wan|de|rung 〈f. 20〉
1. seit dem 2. Jh. n. Chr. u. bes. seit dem Einbruch der Hunnen in Europa Ende des 4. Jh. bis ins 8. Jh. Wanderung germanischer, später auch slawischer Völker nach Süd- u. Westeuropa
2. 〈danach allg.〉 Auszug, Umsiedlung eines ganzen Volkes
3. 〈fig.; umg.; scherzh.〉 Menschenstrom, Bewegung vieler Menschen in einer Richtung
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Vọ̈l|ker|wan|de|rung, die:
1. [LÜ von lat. migratio gentium]
a) (Völkerkunde, Soziol.) Abwanderung von jmdm. in ein anderes Land, in eine andere Gegend, an einen anderen Ort;
b) (Geschichte) zwischen dem 4. u. 6. Jh. stattfindende Wanderung germanischer Völkerschaften u. Stammesverbände nach Süd- u. Westeuropa:
die Zeit der V.
2. (ugs.) Wanderung, Bewegung, Zug einer Masse von Menschen:
jedes Jahr setzt eine V. an die Sonnenstrände Spaniens ein.
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I Völkerwanderung,
im weiteren Sinn die seit Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. auftretenden Wanderungen ganzer Völker oder Stämme; v. a. durch Landnot, Klimawechsel oder Einfall fremder Völker hervorgerufen (z. B. die dorische Wanderung im 12. Jahrhundert v. Chr.; die keltischen Wanderungen im 7. Jahrhundert und ab 400 v. Chr.); im engeren Sinn die Züge meist germanischer Stämme aus ihren Ursprungsgebieten nach Süd- und Westeuropa, die ihren Höhepunkt vom 4. bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. fanden und zu Reichsbildungen auf dem Boden des auseinander brechenden Römischen Reiches führten.
Frühe germanische Wanderungen gab es bereits vor der Zeitenwende (z. B. Bastarnen im 3. Jahrhundert v. Chr. nach Südosteuropa, Kimbern und Teutonen im 2. Jahrhundert v. Chr. in das Römerbriefe Reich). Bedeutender waren im 2./3. Jahrhundert n. Chr. die Wanderungen der Goten, Gepiden und Wandalen nach Südrussland und in die Karpaten sowie die Vorstöße von Markomannen, Alemannen und Franken über Donau und Rhein, die um 260 zum Fall des Limes führten. Im 4. Jahrhundert wurden zunehmend fränkische Söldner in Gallien angesiedelt (Foederaten).
Der Einbruch der Hunnen nach Südrussland 375, gewöhnlich als Beginn der Völkerwanderung bezeichnet, bewirkte erst in den folgenden Jahrzehnten nach und nach die Abwanderung auch geschlossener Volksstämme, von denen sich einige zu »Wanderbünden« zusammentaten (406 Wandalen, Alanen, Sweben). Die Masse der Ostgoten kam erst nach Attilas Tod (453) nach Ungarn, 488 nach Italien. Westgoten zogen 401 nach Italien, später nach Südfrankreich (Tolosanisches Reich) und Spanien.
Die ständige Einwanderung von Franken in Gallien ab 350 erleichterte die Gründung und Ausbreitung des Frankenreiches unter Childerich I. und Chlodwig I. im 5./6. Jahrhundert Ab dem frühen 5. Jahrhundert gelangten Stammesteile der Sachsen, Angeln und Jüten nach Britannien und gründeten dort eigene Königreiche. Mit dem Zug der Langobarden 568 nach Italien fand die germanische Völkerwanderung einen vorläufigen Abschluss. Vom 8. bis 10. Jahrhundert klangen die Völkerwanderungen in Europa mit den Wikingerzügen aus.
Die germanische Völkerwanderung war kein einheitlicher Vorgang, sondern die Summe von Bevölkerungsbewegungen unterschiedlicher Zeitstellung und Ursachen. So bewirkte u. a. die Überlagerung der Stämme an Oder und Weichsel durch nordgermanische Traditionsgruppen unter aristrokratischer Führung (Goten) einen sozialen Wandel (neue Stammesbildung). Dieser und die Verschlechterung der Wirtschaftslage mögen u. a. zu Vorstößen in südlicher Richtung geführt haben. Außerdem zog die römische Welt mit ihrer höheren Kultur und ihren besseren Lebensbedingungen die Germanen stets aufs Neue an. Die spätere Bildung der Großstämme hat in der Völkerwanderung ihre Wurzeln.
Zu den Ergebnissen der germanischen Völkerwanderung gehören die tief greifenden Bevölkerungs-Umgruppierungen in ganz Europa, die mitverantwortlich sind für das Ende des Römerbriefen Reiches. Insgesamt ergab sich dabei eine West-Verlagerung der Germanen und der nachdrängenden Slawen. Neben dem spanischen Westgotenreich war nur den Staatsgründungen der Franken, Angelsachsen und Langobarden auf ehemaligem Reichsgebiet eine längere Lebensdauer beschieden. Die dort erfolgte Tradierung spätantiker Zivilisation prägte wesentlich die abendländische Kultur des frühen Mittelalters.
H.-J. Diesner: Die V. (1980);
H. Riehl: Die V. (Neuausg. 1985);
Franz G. Maier: Die Verwandlung der Mittelmeerwelt, Fischer-Weltgesch., Bd. 9 (76.-77. Tsd. 1992);
M. Maczyńska: Die V. Gesch. einer ruhelosen Epoche im 4. u. 5. Jh. (1993);
J. Martin: Spätantike u. V. (31995);
H. Wolfram: Die Germanen (31997).
Völkerwanderung
Als eigentliche große (germanische) Völkerwanderung gelten die Wanderungsbewegungen, die durch den Einbruch der Hunnen in Europa nach 370 ausgelöst wurden. Während die Hunnen 375 das Gotenreich in der heutigen Ukraine zerstörten (wozu auch eine innergotische Krise beitrug), wich der größere Teil der Goten unter Frithigern über die Donau auf römisches Gebiet aus und wurde 376 von Kaiser Valens in Moesien (im heutigen Bulgarien) angesiedelt; doch ein Aufstand dieser Goten führte 378 zur Schlacht bei Adrianopel, in der Valens fiel. Kaiser Theodosius der Große schloss 382 mit ihnen Frieden. Unter Alarich, der 395 zum König erhoben wurde, fiel der später »Westgoten« genannte Teil 401 in Italien ein und plünderte 410 Rom. Nach Alarichs baldigem Tod wandten sich die Westgoten Südgallien zu und errichteten nunmehr als Verbündete Roms ein Reich mit der Hauptstadt Tolosa (Toulouse), das sich allmählich bis nach Spanien ausdehnte. Im Kampf gegen die Franken 507 fast ganz auf Spanien beschränkt, erlagen sie 711 dem Ansturm der Araber.
Die mit dem Westgoteneinfall in Italien zusammenhängende Schwächung der Rheingrenze begünstigte die Westwanderung der Sweben, Vandalen, Burgunder und Alanen (ein Stamm iranischer Herkunft), die ab 406 Gallien überrannten und 409 großenteils nach Spanien abwanderten; die Burgunder erhielten durch einen Bündnisvertrag mit Rom 413 das Gebiet um Worms, nach einer schweren Niederlage gegen die Hunnen (436; Hintergrund der Nibelungensage) die Sapaudia (Savoyen) als Siedlungsgebiet. Während die Sweben, von den Westgoten nach Nordwestspanien abgedrängt, dort bis um 585 ein eigenständiges Reich behaupteten, setzten die Vandalen und Alanen unter Geiserich 429 nach Nordafrika über, das sie bis 439 (Fall Karthagos) eroberten. 455 wurde Rom erneut heimgesucht, dieses Mal von Geiserichs Truppen. Auf Grund innerer Schwierigkeiten und der Überlegenheit des Oströmisch-Byzantinischen Reiches unter Kaiser Justinian dem Großen brach das Vandalenreich nach der Niederlage Gelimers gegen den byzantinischen Feldherrn Belisar 534 zusammen.
Der Unterwerfung vieler Germanenstämme bzw. Teilstämme durch die Hunnen setzte der Sieg eines römisch-germanischen Heeres unter dem Reichsfeldherrn Aetius 451 auf den Katalaunischen Feldern (bei Troyes) und endgültig der Tod des Hunnenkönigs Attila 453 ein Ende. Der Niedergang des Weströmischen Reiches wurde dadurch jedoch nicht aufgehalten. Der Skire Odoaker (Odowakar), der von den die Mehrheit des römischen Heeres stellenden germanischen Truppen 476 zum König ausgerufen wurde, beseitigte das bereits machtlose weströmische Kaisertum, wurde selbst jedoch 493 in seiner Hauptstadt Ravenna von dem Ostgoten Theoderich ermordet. Die Herrschaft der Ostgoten endete mit der Eroberung Italiens durch den byzantinischen Feldherrn Narses (553). Doch schon 568 fielen neue Eroberer, die Langobarden, unter König Alboin in Oberitalien ein und schufen ein Reich mit dem Zentrum Pavia, das erst 774 Karl der Große vernichtete. Die einzige dauerhafte germanische Reichsgründung war die der Franken.
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Vọ̈l|ker|wan|de|rung, die [1: LÜ von lat. migratio gentium]: 1. (Völkerk., Soziol.) vgl. ↑Migration (1 a): Überdies sind ... Wirtschaftskriege und weltweite -en zu erwarten (natur 9, 1991, 37); Die Kunst von Byzanz reicht mit ihrem Einfluss weit hinein in die architektonisch unergiebige Zeit der V. (hist.; der zwischen dem 4. u. 6. Jh. stattfindenden Wanderung germanischer Völkerschaften u. Stammesverbände nach Süd- u. Westeuropa; Bild. Kunst III, 17). 2. (ugs.) Wanderung, Bewegung, Zug einer Masse von Menschen: Naturschutz verträgt keine -en (Basler Zeitung 2. 10. 85, 34); eine V. zum Fußballstadion; jedes Jahr setzt eine V. nach Neuschwanstein ein.
Universal-Lexikon. 2012.