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Neuhegelianismus
Neu|he|ge|li|a|nịs|mus 〈m.; -; unz.; Philos.〉 Strömung im 20. Jh., die die Philosophie Hegels weiterzuführen sucht

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Neuhegelianịsmus,
 
zusammenfassende Bezeichnung für sehr verschiedenartige Erneuerungsversuche der Philosophie G. W. F. Hegels im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts Im engeren Sinn kann man von Neuhegelianismus nur in Abhebung von einem älteren Hegelianismus sprechen, wie er z. B. in Deutschland und Italien im 19. Jahrhundert aufgetreten ist. Im weiteren Sinn werden auch erstmalige Hegelrezeptionen, die in manchen Ländern gleichzeitig mit dem deutschen Neuhegelianismus erfolgten, als Neuhegelianismus bezeichnet.
 
Nachdem der ältere Hegelianismus in Deutschland etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verebbt und durch eine Rückwendung zum Kritizismus I. Kants abgelöst worden war, eröffneten K. Fischer und W. Dilthey mit Arbeiten zur Entwicklungsgeschichte des hegelschen Denkens die neue positive Aufnahme seiner Philosophie. Bereits in seinen Anfängen wie auch später begleitete den Neuhegelianismus eine ausgeprägte Selbstreflexion. W. Windelband sah im Fortgang vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus eine Wiederholung des Weges von Kant zu Hegel, ausgelöst durch einen neuen »Hunger nach Weltanschauung«. Hegels staats- und geschichtsphilosophisch orientierte Lehre von der Welt als »Erfüllungsort des Geistes« und eine Absage an den schrankenlosen Individualismus F. Nietzsches schienen diesem Bedürfnis zu entsprechen. R. Kroner knüpfte an Windelband an, indem er v. a. die innere Notwendigkeit in der systematischen Problementfaltung auf dem Weg von Kant zu Hegel herausarbeitete. Die Entstehung des Neuhegelianismus sowie sein Selbstverständnis hängen weitgehend mit dieser Fragestellung zusammen. Das entsprach Hegels philosophiegeschichtlicher Methode, die Geschichte des Denkens als logische Entfaltung des Problemgehalts zu verstehen. H. Glockner versuchte im Anschluss an die Lebensphilosophien des 19. Jahrhunderts (L. Feuerbach, F. T. von Vischer, Dilthey) den irrationalen Momenten, die sich beim jungen Hegel finden, mehr Geltung zu verschaffen. Hegels Rechts-, Staats- und Geschichtsphilosophie gerieten teilweise in deutlicher Nähe zum Nationalsozialismus (Julius Binder, * 1870, ✝ 1939; K. Larenz). - Der Neuhegelianismus übernahm die Gehalte der Philosophie Hegels meist nur kritisch und modifiziert. Unterstützt wurde er durch die editorischen Bemühungen um Hegels Werk (H. Nohl; Georg Lasson, * 1862, ✝ 1932).
 
In Italien eignete sich B. Croce Hegel kritisch an, indem er zwischen dem Lebendigen und dem Toten in Hegels Philosophie unterschied, also nicht nur zwischen Anschauung und Begriff. G. Gentile unternahm eine interpretatorische Reform der Dialektik Hegels.
 
In den Niederlanden wandte sich G. Bolland Hegel zu. Aus seiner Schule, der Bollandgesellschaft (u. a. B. Wigersma und J. Hessing), ging 1930 der »Internationale Hegel-Bund« hervor, der zu einer Sammlungsbewegung für den Neuhegelianismus wurde. Er hatte aber keinen längeren Bestand.
 
Zum Neuhegelianismus im weiteren Sinn kann man auch die Hegelrezeption in Großbritannien von 1865 bis etwa 1920 zählen (J. H. Stirling, F. H. Bradley, B. Bosanquet). Die Hegelrezeption in Frankreich (u. a. J. Hyppolite, A. Kojève), die erst seit etwa 1930 und in einer vom deutschen Idealismus stark verselbstständigten Form erfolgte, wird nicht dem Neuhegelianismus im strengen Sinne zugerechnet.
 
Literatur:
 
W. Dilthey: Die Jugendgesch. Hegels (1905);
 B. Croce: Lebendiges u. Totes in Hegels Philosophie (a. d. Ital., 1909);
 G. Lasson: Beitr. zur Hegelforschung, 2 Tle. (1909-10);
 W. Windelband: Die Erneuerung des Hegelianismus (1910);
 H. Levy: Die Hegel-Renaissance in der dt. Philosophie (1927);
 H. Höhne: Der Hegelianismus in der engl. Philosophie (1936);
 H. Glockner: Beitr. zum Verständnis u. zur Kritik Hegels sowie zur Umgestaltung seiner Geisteswelt (1965);
 W. Moog: Hegel u. die Hegelsche Schule (Neuausg. 1969);
 W. R. Beyer: Hegel-Bilder (Berlin-Ost 31970);
 R. Kroner: Von Kant bis Hegel, 2 Bde. (31977);
 J. Hyppolite: Introduction à la philosophie de l'histoire de Hegel (Neuausg. Paris 1983);
 
Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Vorträge. .., hg. v. H.-G. Gadamer (21983);
 T. Kesselring: Die Produktivität der Antinomie (1984);
 D. Losurdo: Hegel u. das dt. Erbe (a. d. Ital., 1989);
 A. Kojève: Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens (a. d. Frz., Neuausg. 41997).

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Neu|he|ge|li|a|nis|mus, der: philosophische Richtung des 20. Jh.s, die eine Erneuerung bestimmter Seiten des Hegelianismus anstrebt.

Universal-Lexikon. 2012.